Mittwoch, 28. August 2013

Ein Rinderherz für Kiwis



(Anmerkung: Leider darf ich aus rechtlichen Gründen keine Bilder aus Rainbow Springs im Internet hochladen. Aber bei Interesse, könnt ihr euch an Rolf wenden, ihm habe ich ein paar geschickt)

Morgens werde ich von Sharon und John zur Busstation gebracht, wo wir auf meinen Transport um 8:45 Uhr warten. Zufällig treffen sie dort eine Bekannte, die ebenfalls auf dem Weg gen Westen ist und der ich sogleich vorgestellt werde. Ihr Name ist Janette und wie es der Zufall will, arbeitet sie für DOC (Department of Conservation) in Fjordland und steht in engem Kontakt zu Kollegen, die für das Kakapo-Projekt auf Codfish Island zuständig sind, für das ich mich so sehr interessiere.
Auf der Fahrt sitzen wir nebeneinander und ich bekomme neben ihrer Handynummer noch den nützlichen Rat, nicht zurückhaltend und höflich zu sein, wenn ich mich für das besagte Projekt bewerbe, sondern ihre Kollegen zu nerven und ordentlich auf die Zehen zu treten, denn anders würde man bei DOC überhaupt nichts erreichen. Dies widerspricht zwar grundsätzlich meiner Natur, aber wenn ich es schon so ausdrücklich empfohlen bekomme, werde ich versuchen mich daran zu halten, wenn es so weit ist. Bevor ich mich jedoch überhaupt bewerbe, brauche ich einige Referenzen von anderen Tierschutzprojektleitern und generell Erfahrung im Umgang mit bedrohten Vögeln – ein weiterer Grund, warum ich so auf die Freiwilligenarbeit mit Kiwis aus bin. Ich hoffe, ich werde bei Kiwi Encounter viel lernen…

Gegen Mittag treffen wir in Rotorua ein und ich werde dort von Jacko abgeholt, ein 102jähriger Maori, den ich auf Couchsurfing kontaktiert habe. Ich hoffe von ihm mehr über die Maorikultur erfahren zu können. Als er die Autotür öffnet, bin ich erstaunt. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet habe, aber ich stelle mir einen Mann, der über ein Jahrhundert alt ist, nun ja, irgendwie älter vor. Jack könnte noch locker für 60 durchgehen. Vermutlich glückliche Gene. Was mich aber doch etwas aus der Fassung bring ist die Tatsache, dass er eine 12jährige Tochter hat, mit der ich mir das Zimmer teilen werde.
Aber das ist ja das schöne an Couchsurfing; man erlebt immer wieder eine Überraschung.

Am Abend treffe ich einen weiteren Übernachtungsgast – Maya aus den USA (den genauen Staat habe ich vergessen). Auch sie schläft im Zimmer der Tochter, das mit uns dreien ziemlich voll ist. Ich schlafe auf meiner Luftmatratze auf dem Boden zwischen ihrem blinkenden Computertisch und einem Gästebett mit durchgelegener Matratze auf dem Maya nächtigt. Die ganze Wohnung ist eine Rumpelkammer, miefig und duster. Als kleine freundschaftliche Geste und aus purem Eigennutz putze ich das Bad. Es sieht nämlich aus, als wäre dort seit Jahren nicht mehr saubergemacht worden und ich könnte Dusche oder Klo in ihrem jetzigen Zustand einfach nicht benutzen.
Gemütlich ist etwas anderes, aber ich will nicht meckern. Immerhin habe ich eine kostenlose Unterkunft, interessante Mitbewohner und wir dürfen Vater und Tochter beim Abendessen (das in Maori „kai“ genannt wird) Gesellschaft leisten.

Da mein erster Voluntärtag erst am Montag ist, habe ich geplant mich bis dahin auszuruhen, vielleicht ein paar Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und den Weg zu „Rainbow Springs“ - wie die Erlebnisparkanlage heißt, zu der Kiwi Encounter gehört - auszukundschaften.
Da es regnet streiche ich den Plan mit den Sehenswürdigkeiten jedoch und mache mich auf den Weg zum Kiwipark. Es ist recht simpel: Von Jackos Haus aus muss ich nur für etwa 50 Minuten die vierspurige Hauptstraße entlanglaufen, dabei den Autolärm ausblenden, einige große Seitenstraßen ohne Ampeln rennend überqueren und vergessen, dass ich patschnass bin. Letzteres gestaltet sich nach einiger Zeit schwierig, da ich Jeans trage und diese mit jedem Schritt schwerer zu werden scheinen. Dazu ist es auch noch kalt. Jeans sind bei Weitem das ungünstigste Kleidungsstück, das man bei anderem Wetter als Sonnenschein tragen kann. Und dann ist einem darin zu heiß.
Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, wie weit es bis zu meinem Ziel ist, ich mich nach dem Weg erkundigen will und ein Tankstellencafe mit Licht, Wärme und der Aussicht auf ein Heißgetränk lockt, gebe ich kurzerhand dieser spontanen Versuchung nach und mache es mir mit einem Muffin und einer Tasse Kakao an einem Tisch gemütlich, wo ich die nächste Stunde lesend verbringe, bis meine Hose und die gestreifte Markise vor dem Eingang nicht mehr tropft.
Dies genieße ich umso mehr, da mich die Bedienung zuvor davon in Kenntnis gesetzt hat, dass Rainbow Springs nur etwa 500 Meter entfernt um die Ecke liegt.

Da es nun nur noch nieselt mache ich mich mit neuem Schwung auf und erreiche nach kurzer Zeit den Erlebnispark. Ich wollte mich eigentlich nur kurz umsehen und dann wieder zurücklaufen, aber bei Jacko zuhause erwartet mich nur die enge, dunkle und muffige Wohnung, sein unglaublich selbstbewusstes Töchterchen vor dem Fernseher und keinerlei Privatsphäre. Also versuche ich meinen Aufenthalt hier etwas in die Länge zu ziehen und stelle mich beim Schalterpersonal als künftige Voluntärin vor. Es hilft, dass sie bereits von mir gehört haben, denn eine nette Kassiererin schlägt mir vor, ich könne mir doch den Park ansehen, wo ich schon einmal hier bin. Umsonst natürlich.

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und verbringe fast vier Stunden damit, auf den kleinen Pfaden umherzuwandeln, mir die Vogelvoliere anzusehen, die sauber beschrifteten einheimischen Pflanzen und Bäume zu studieren, Reptilien, Regenbogenforellen, exotische Papageien des Vogelschauprogramms, Moa-Nachbildungen aus Kunststoff und die Wildwasserbahn zu bestaunen und zu versuchen, die Kiwis zu finden, die aufgrund ihrer Flugunfähigkeit und Nachtaktivität nicht in der Voliere untergebracht sind.

Sie haben sich übrigens aufgrund des „Haast-Adlers“, eines inzwischen ausgestorbenen Riesenraubvogels mit einer Flügelspannweite von über drei Metern zu nachtaktiven Tieren entwickelt, weil sie, wie der ebenfalls ausgestorbene straußenähnliche „Moa“ in dessen Beuteschema fielen. Beide dieser leider nicht mehr existierenden gigantischen Vögel kamen noch bis ins 20. Jahrhundert in Neuseeland vor, der Adler sogar noch bis zum Eintreffen der ersten weißen Siedler, da Dr. Haast, ein Naturforscher das Glück hatte, sie als einer der Letzten zu sehen und zu beschreiben. Den Moa haben die Maori schon vor James Cooks Ankunft im Jahre 1769 ausgerottet und da Moas die Hauptbeute des Adlers waren, verschwand dieser kurz darauf von der Bildfläche. Lebensechte Nachbildungen und Knochenfunde sind im Wellington Museum „Te Papa“ ausgestellt, das ich unbedingt besuchen will.

Ich entdecke die Kiwis später ganz am Ende des Parks (wenn man das so nennen kann, wenn die Pfade in einem Halbkreis verlaufen). Anders gesagt – hätte ich links, statt rechts begonnen den Park zu erkunden, so hätte ich sie auf Anhieb gefunden.

Dieser Bereich ist mit dem meisten Aufwand und viel Liebe zum Detail hergerichtet worden, da sich um ihn herum mit der Zeit der restliche Park gebildet hat. Es gibt einen Inforaum, in dem man sich verschiedene Filme ansehen, Kiwirufe anhören und Tafeln mit Erläuterungen durchlesen kann. Einige Vertreter der Spezies werden ausgestopft präsentiert, wie auch deren Fressfeinde; Wiesel, Marder, Opossums, Katzen und Ratten. In einer Einlassung im Boden mit Glasdeckel ist ein hohler Baumstumpf mit einem echten (inhaltslosem) Kiwi-Ei darin ausgestellt. Das Beste liegt aber hinter einer schweren Automatiktür: Das Nachthaus. In diesem befinden sich drei verglaste Gehege, alle dicht bepflanzt mit Farnen und kleinen Sträuchern und da ich Glück habe, sehe ich darin meinen ersten lebendigen Kiwi herumstaken. Ich freue mich schon auf die kommenden Tage und verlasse glücklich den Park. 





















Am nächsten Morgen stehe ich früh auf, um rechtzeitig vor Ort zu sein. Toni, mit dem ich die ganze Zeit in E-Mail-Kontakt stand und der sich um meine Bewerbung gekümmert hat, wird mich empfangen und einweisen. Vom Namen habe ich mich jedoch in die Irre führen lassen und muss lachen, als sich Toni als Frau entpuppt.
Nachdem ich alle möglichen Einweisungsformulare unterzeichnet habe, händigt sie mir einige Essensgutscheine für das Parkcafé im Wert von insgesamt 100 Dollar aus und bringt mich anschließend zum Kiwibereich, den ich nun ja schon kenne. Dort stellt sie mich Claire Trevers (der Leiterin des Kiwiteams) und Carmel (einer der sechs Teammitgliederinnen) vor.
Sie sind alle sehr freundlich und zeigen mir ihr Refugium, das aus Küche, Bruträumen für Eier und geschlüpfte Küken, Quarantänestation, Nachthaus und Pausenraum besteht. Da der Park Führungen „hinter die Kulissen“ anbietet, ist jeweils eine Wand der Küche und der Bruträume verglast.
Es kommt in meiner Zeit hier oft vor, dass eine Touristengruppe durch die Anlage geschleust wird und mir bei der Arbeit zusieht, während der Gruppenführer seine Monologe dazu herunterbetet. In diesen Augenblicken versuche ich dann natürlich bei dem, was ich gerade tue, äußerst wichtig und geschäftig zu wirken, selbst wenn ich nur das Geschirr abwasche.

Kurz darauf - nach einer Tasse Tee und Kuchen - bekomme ich meine erste Aufgabe. Mir wird in der Küche gezeigt, wie das Kiwifutter hergestellt wird:

Rinderherzragout á la Rainbow Springs:

Für etwa 25 Portionen (á 170 – 250 Gramm)

Zutaten: 2 große Beutel gehacktes rohes Rinderherz, 2 Bananen, 1 Apfel, 1 Birne, 2 Karotten, ¼ Brokkoli, 1/3 Zucchini, 250 g gemischtes Tiefkühlgemüse, 1 Tasse eingeweichtes Katzentrockenfutter, 2 Tassen eingeweichte Haferflocken und Vollkornmehl, Vitaminpulver.

Das Rinderherz in eine große Schüssel geben und das Blut bis auf einen kleinen Rest abgießen. (Zu große Stücke eventuell nochmals zerteilen.) Nun das Obst und Gemüse in einem Mixer zerkleinern und mit dem Fleisch vermischen. Das eingeweichte Trockenfutter und die Haferflocken unterheben.
Das Gesamtgewicht des Rinderherzgemischs auf einer Küchenwaage bestimmen und entsprechend der Menge 100 Gramm Vitaminpulver pro Kilo einrieseln lassen.
Alles fünf Minuten lang miteinander vermengen und gut gekühlt nicht länger als einen Tag aufbewahren.

Dieses köstliche Gericht wird dann gegen Mittag in Portionen abgewogen und in kleine Schälchen verteilt, auf die zuvor der Name des Kiwis und die ihm zugehörige Grammangabe mit abwaschbarem Kohlestift geschrieben wurde.
Die individuelle Portion errechnet sich aus dem Körpergewicht des Kiwis, seinem momentanen Gesundheitszustand, sowie der notierten Futterrestmenge der letzten paar Tage und wird jeden Morgen aufs Neue bestimmt.

Anschließend helfe ich noch, die Näpfe zu verteilen. Dazu stapeln wir sie in eine Plastikkiste und tragen diese den kleinen Hügel hinauf, auf dem die halbwüchsigen Kiwiküken sowie einige die alteingesessenen Pärchen in Einzelgegehen hausen. Da erwachsene Kiwis territorial veranlagt sind, kann man nur sehr junge Küken zusammensetzen. Bald werden unsere Schützlinge groß und stark genug sein, um auf sich allein gestellt zu überleben.
Man entlässt sie wieder in die freie Wildbahn, wenn sie ungefähr ein Kilo wiegen. Bei Weibchen, die insgesamt größer und bis zu drei Kilo schwer werden können, geht das etwas schneller als bei den Männchen, die im Durchschnitt nur etwa 2,1 Kilogramm wiegen, wenn sie erwachsen sind.

Das Aufzuchtsprogramm läuft unter „Operation Nestegg“, das von Sponsoren – wie zum Beispiel Banken - und natürlich DOC finanziell getragen wird. Von den Spendengeldern werden Helfer bezahlt, die die wild gelegten Eier in den Wäldern nach etwa 30 Tagen natürlicher Bebrütung einsammeln und zu Kiwi Encounter nach Rotorua bringen, wo sie die restlichen 50 – 60 Tage künstlich im Kasten ausgebrütet werden.
Normalerweise besteht bei Vögeln, die von menschlicher Hand ausgebrütet werden das Risiko, dass sie sich auf denjenigen prägen, der sie nach dem Schlüpfen als erstes füttert und sich um sie kümmert. Man denke nur an das „Tagebuch einer Entenmutter“.
Bei Kiwis ist das anders. Die Brutzeit ist deshalb so lang - fast drei Monate - weil das Küken anschließend komplett entwickelt und absolut selbstständig auf die Welt kommt. Es handelt rein intuitiv, trägt alles Wissen bereits in sich und wird sofort versuchen mit dem Schnabel in der Erde nach Futter zu suchen, wie die erwachsenen Tiere auch. Das ist der einzige Grund, warum das Aufzuchtsprogramm in dieser Form überhaupt möglich und so erfolgreich ist.

Nun werden sich einige dennoch fragen, warum man sie nicht von den Eltern fertig ausbrüten lässt, wenn sie schon mal dabei sind. Das Problem ist nur, dass wilde Kiwi-Eier gnadenlos von Wieseln, Ratten und Opossums gefressen und nur 5% der wenigen geschlüpften Küken tatsächlich das Erwachsenenalter erreichen würden. Vermutlich sogar noch weniger. Momentan sind fast 95% ihres natürlichen Lebensraums nicht geschützt.
Dagegen haben die künstlich ausgebrüteten und liebevoll hochgepäppelten Kiwiküken eine realistische Überlebenschance, sobald sie zurück in die Wildnis entlassen werden. Kiwis sind derzeit leider so gefährdet, dass man mit keinem Küken ein Risiko eingehen kann.

Allerdings darf man die Eier auch nicht zu früh einsammeln, da sich sonst viele davon nicht richtig entwickeln würden.
Deshalb lässt man sie mindestens einen Monat bei den Eltern, wo sich hauptsächlich der Kiwivater um das Ausbrüten kümmert, während die Kiwimutter damit beschäftigt ist, sich das während der Tragzeit eingebüßte Gewicht wieder anzufressen. Das Kiwi-Ei macht bis zu 1/3 ihres Gesamtkörpergewichts aus, wenn es gelegt wird (verglichen mit der Körpergröße ist es damit weltweit das größte Vogel-Ei) und verdrängt alle Organe, einschließlich des Magens, der dermaßen komprimiert wird, dass er in den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft keinerlei Nahrung mehr aufnehmen kann. Pro Saison kann ein Weibchen ihr Gesamtgewicht in Eiern legen - zwei bis drei Stück!

Am Nachmittag, kurz vor Feierabend darf ich noch mit in den Quarantäneraum und bei der Versorgung eines Patienten helfen. Kiwi „Kohi“ war einige Wochen zuvor in eine von Jägern gelegte Falle getappt – die damit vermutlich Opossums fangen wollten - und sich dabei einen Zeh schwer verletzt, der sich auch noch entzündete. Er war zum Arzt gebracht und dort behandelt worden und hält sich nun in Rainbow Springs auf, weil er weiter pflegebedürftig ist. Die Sache sieht bedenklich aus. Das Zehenglied bedarf der Amputation, konnte aber nicht entfernt werden, da es genau an der betroffenen Stelle ins Schienbein übergeht und so sitzt die Infektion noch immer hartnäckig im Fuß. Die Medikamente bewirken leider nichts. Kohis einzige Chance besteht darin, den kompletten Fuß zu amputieren, aber mit einer solchen Behinderung könnte man ihn nie wieder in die Wildnis entlassen und er müsste für den Rest seines Lebens in einem Zoo oder einer ähnlichen Anlage untergebracht werden. Ein Schicksal, dass ihm keiner wünscht.

Leider wird Kohi schon am folgenden Tag eingeschläfert. Das Kiwiteam hat mit schwerem Herzen beschlossen, dass dies das Beste für den Vogel ist.

An diesem zweiten Tag wird mir auch zum ersten Mal von Carmel gezeigt, wie das Nachthaus für den Besucherandrang vorbereitet wird, das fortan zu meinen täglichen Aufgaben gehört.
Die Kiwis im Nachthaus haben natürlich einen anderen Rhythmus als die in den Außengehegen – genau umgekehrt, damit Besucher auch die Chance haben, die Vögel zu Gesicht zu kriegen. Daher bekommen sie auch nicht kurz vor Feierabend ihr Rinderherzragout, sondern morgens, wenn ich das Licht dort ausknipse und für sie im Dunkeln die aktive Zeit der Futtersuche beginnt.
Vor dem Verteilen des Futters muss ich allerdings die Bäume und Sträucher in den Schaukästen bewässern und deren Blätter befeuchten. Kiwis bevorzugen einen tropischen, feucht-kalten Lebensraum, weil sie besonders dann fette Würmer und Larven aufspüren können. Diese müssen natürlich von uns eingeschleust werden. Wir haben ein Maden-Terrarium, jede Woche kommt eine Regenwurmlieferung in einem schwarzen Leinensack und alle paar Monate besorgt Carmel einige zersägte Baumstämme aus kontrollierten Waldgebieten, in denen sich „huhu gubs“ (wie die einheimischen dicken, weißen Larven genannt werden) eingenistet haben. Auch wenn aufgepasst wird, aus welchen Gebieten diese Holzscheite stammen, müssen wir jeden einzelnen davon kontrollieren und mit einem Metalldetektor absuchen, damit auch ja keine rostigen Nägel oder ähnliches in die Gehege gelangen. Kiwis tendieren nämlich leider dazu, kleine Metallteile zu verschlucken, was schon den ein oder anderen, trotz OP, das Leben gekostet hat. Dieser Impuls ist ganz natürlich, denn sie verschlucken stets kleine Steinchen, die ihnen bei der Verdauung helfen.

Wenn die Pflanzen im Licht der Rot- und Grünlichtlampen glänzen und der Wasserdampf aufsteigt, mache ich mich auf die Suche nach den Vögeln. Jeder einzelne im Park muss morgens „gefunden“ werden, damit sichergestellt ist, dass es ihnen gut geht. Hocken sie in einem Tunnel, legt man sich auf den Bauch und tastet mit der Hand den Gang ab, bis man auf die kleine, warme, weiche Kugel stößt. Meistens haben sie einen Lieblingsplatz, in dem sie den Tag verschlafen, besonders die Nachthauskiwis. Hin und wieder kommt es aber auch vor, dass ich das ganze Gehege zwei- oder dreimal ablaufen muss, bis ich ihn gefunden habe. Weitere Hinweise auf ihre Gesundheit geben die Futterreste, Bohrlöcher im Boden und Exkremente. Ist kaum etwas gegessen worden und zudem keines der weißen Häufchen zu sehen, kann man vermuten, dass der Kiwi seinen Bau nur einmal kurz verlassen hat und es ihm demzufolge nicht allzu gut gehen kann. (In den Monaten Juli – September kann es bei Weibchen jedoch auch bedeuten, dass sie kurz davor stehen, ein Ei zu legen).

Nachdem ich alle Tiere aufgestöbert habe, vergrabe ich in jedem Schaukasten zwei Hand voll Regenwürmer und verteile die Futterschalen. Sie dürfen in keinem der schwachen Lichtkegel stehen, das würde die Kiwis vom Fressen abschrecken. Ab und zu zerkleinere ich auch die Scheite mit den Huhu-Larven, denn auch wenn die Vögel einen langen Schnabel haben, sitzen die Insekten oft so tief im Holz, das ein Herankommen unmöglich ist.

Die Schnäbel der Kiwis sind wirklich einzigartig. Anders als bei ihren flugfähigen Verwandten sind diese nämlich sehr lang (bis zu 10 cm bei ausgewachsenen Weibchen), dünn, gut durchblutet, sehr sensibel und haben die Nasenlöcher nicht nahe am Kopf, sondern ganz vorne an der Schnabelspitze. Zusammen mit ihrem ausgezeichneten Geruchssinn und langen, feinen Schnurrbarthaaren hilft er ihnen dabei, Würmer und andere Leckerbissen aufzuspüren, wenn sie ihn auf der Suche danach in die Erde stecken. Hierbei dringt natürlich Dreck und Staub in die Nasenlöcher ein und sie müssen diesen kontinuierlich wider ausschnauben. So entstehen die markanten Schnüffellaute, die sie bei der Nahrungssuche von sich geben. 
Ein Kiwi trinkt übrigens wie wir Menschen auch, indem er das Wasser einsaugt und dabei seine Luftröhre verschließt und nicht, wie andere Vögel, den Kopf nach hinten legt und die Flüssigkeit die Kehle herunterrinnen lässt. In seiner Zunge befindet sich nämlich ein längliches Loch, das in der Lunge endet und in das kein Wasser eindringen sollte.

Als der erste europäische Forscher einen Kiwi entdeckte und ein gefangenes - gestreckt steif gewordenes - Exemplar ins britische Museum schickte, dachten seine Kollegen in der Heimat zunächst, er wolle sie auf den Arm nehmen und hätte ein Tier aus verschiedenen anderen „zusammengebastelt“, um Aufsehen zu erregen. (Das gleiche hatte man übrigens auch vom Schnabeltier geglaubt, als es in Australien gefunden wurde.)
Als die Existenz dann endlich geglaubt wurde und sie versuchten, das fabelhafte Tier bildlich für die Ausstellung darzustellen, zeichneten sie ihn pinguinartig, aufrecht gehend mit erhobenem Kopfe. Es ist geradezu rührend anzusehen, wie die Museumsangestellten verzweifelt versuchten, etwas Vertrautes in den Kiwi hineinzuinterpretieren, weil sie mit soviel Fremdartigkeit wohl einfach nicht umgehen konnten.…

Seine von hellbraun über rötlich bis schwarz gefärbten „Federn“ ähneln zum Beispiel eher Haaren, als Vogelgefieder. Sie hängen lose herunter, sind lang, dünn, etwas stachelig - wie die Daunen eines Kükens - und besitzen keinerlei wasserabweisende Eigenschaften. Seine ehemaligen Flügel sind so stark zurückgebildet, dass man sie nur ertasten kann. Sie sind nur noch etwa zwei Zentimeter lang und mit vier bis fünf Federn ausgestattet. An der Flügelspitze befindet sich eine kleine weiche Hornklaue. Dennoch tendieren Kiwis wie so viele andere Vögel dazu, ihren Kopf beim Schlafen unter ihr stummeliges Flügelchen zu stecken, was ein wenig albern aussieht. 
Er hat keinen Schwanz mehr, nicht einmal das Steißbein ist vorhanden, wie wir es noch besitzen.
Dafür haben sie muskulöse, von dunkelbraunen Schuppen bedeckte Beine und kräftige dreizehige Füße mit dicken, langen Nägeln. Passenderweise wurde er in meinem Tier-Bestimmungsbuch „field guide to new zealand wildlife“ frei übersetzt so beschrieben: „Wenn man ihn sich ansieht, so scheint der Kiwi nur aus Hinterkeulen und Schnabel zu bestehen.“ („Seeming all bill and drumsticks“)
Sein Kopf ist in der Tat winzig im Vergleich zu seinem großen Rumpf und das Augenlicht unzureichend, so dass er über Wurzeln stolpert und gegen Bäume rennt, sobald er in Panik flüchtet. Sein Gehör dagegen ist sehr gut ausgebildet.

Es gibt fünf verschiedene Arten von denen drei am Häufigsten vorkommen - falls man dieses widersprüchliche Wort bei einer gefährdeten Tierart überhaupt verwenden kann:
Den braunen Kiwi („tokoeka“), beheimatet auf der Nordinsel und in Fjordland; den großen getüpfelten („roa“), der im Nordwesten der Südinsel zu finden ist und den kleinen getüpfelten Kiwi („pukupuku“), der leider bis auf Kapiti Island nirgendwo sonst mehr vorkommt.

Obwohl sie sich äußerlich nur in Farbe, Größe und Gefiedermuster unterscheiden, ist ihr Sozialverhalten nicht einheitlich. Der klein getüpfelte Südinselkiwi lebt zum Beispiel in festen Familiengruppen in geräumigen unterirdischen Bauten, wohingegen der braune Nordinselkiwi seinen Nachwuchs lediglich in seiner Nähe duldet, solange er sich unauffällig und passiv verhält. Er vertreibt seine Jungen jedoch, sobald sie geschlechtsreif werden und anfangen, mit den typischen Pfeiflauten Revier zu beanspruchen.

Soweit sind unsere Kleinen aber noch nicht. Wenn sie nach etwa sechs Monaten ein Kilo wiegen, alle notwendigen Gesundheitschecks bestanden haben und ausgewildert werden können, sind es noch immer Jugendliche, die außerhalb des Auffälligkeitsrasters der Altvögel liegen und ungehindert in deren Revieren herumstreichen, Nahrung suchen und sich langsam an die neuen Umstände gewöhnen dürfen. Erst mit etwa zwei Jahren fangen sie an, eigene Reviere zu erobern und auf Partnersuche zu gehen.
In den meisten Fällen halten diese Verbindungen lebenslang, es sei denn einer der Vögel stirbt frühzeitig. Sie können über 40 Jahre alt werden und diese Lebensspanne ist für verwitwete Tiere lang genug, um sich einen anderen Partner zu suchen.

In Rainbow Springs gibt es derzeit zwei Paare, die jedes Jahr erfolgreich Eier legen. Eine besonders rührende Geschichte rankt sich dabei um „Tahi“:
Er ist Vater einer ganzen Reihe Küken, von denen fast alle bereits in der freien Wildbahn leben. Bis auf „Ahi“, seinen Sohn, der nur ein Gehege weiter mit seiner Gefährtin „Tika“ lebt.
Leider ist Tahis Partnerin einige Jahre zuvor gestorben und er ist seitdem allein, weil sich bisher einfach noch kein geeigneter Ersatz finden wollte. Man könnte ihn fast als einsames Wesen bemitleiden, wenn er nicht jährlich eine Aufgabe hätte, die er für einige Monate mit Hingabe erfüllt.
Sein Sohn Ahi ist, was man bei Menschen einen „Rabenvater“ nennen würde, denn er weigert sich standhaft seinen Teil der Brutpflege zu übernehmen. Allerdings ist das bei ihm auf eine Verhaltensstörung zurückzuführen, denn er hatte eine stressreiche Jugend, die eine normale Entwicklung nicht ermöglichte. Man glaubte nämlich für mehrere Jahre er sei ein Weibchen - bei jungen Kiwis ist das Geschlecht nur durch einen Bluttest herauszufinden - und versuchte ihn daher mit anderen Männchen zu verkuppeln.
Das ging natürlich gründlich in die Hose, denn Kiwis sind extrem territorial und diese gut gemeinten Partnervermittlungen endeten ausschließlich gewalttätig. Bei einem Kampf verlor Ahi sogar sämtliche Rückenfedern, als das andere, ebenfalls nicht homosexuelle Männchen mit einem deftigen Fußtritt seinem Standpunkt Ausdruck verlieh, was er von der ganzen Sache hielt.
Der arme Ahi hatte also keine Gelegenheit, in den wichtigsten Entwicklungsjahren seiner Rolle als Vater gerecht zu werden und konnte dies scheinbar nie wieder aufholen.
Zwar produziert er zusammen mit Tika jedes Jahr sein Soll von zwei Eiern, aber er scheint einfach nicht zu wissen, was er anschließend damit anfangen soll. Man opferte ihm zuliebe eine ganze Reihe dieser ersten Gelege, in der Hoffnung, es würde ihm eines Tages schon dämmern - erfolglos.
So startete man ein gewagtes Experiment.
Man schob ein von Tika frisch gelegtes Ei Opa Tahi unter. Er hat sich vielleicht kurz gewundert, wo das wohl so plötzlich hergekommen sein mag, wusste im Gegensatz zu seinem Sohnemann aber ganz genau, was von ihm erwartet wurde. Wenig später hatte er es bereits als Eigentum deklariert, seinen Körper wie einen Pfannkuchen darübergestülpt und bewachte das Ei fortan mit Argusaugen. Ja, er hob nicht einmal mehr den Kopf, wenn zur morgendlichen Routinekontrolle der Deckel seines Baus geöffnet wurde. Sein Futterkonsum nahm drastisch ab, wie das bei brütenden Vätern üblich ist und bestätigte die Hoffnung, er habe das Ei vollständig angenommen. Als Stieftochter Tika dann 30 Tage später ihr zweites Ei legte, tauschte man das frische gegen das bereits angebrütete und steckte letzteres in den Brutkasten, wo das Küken zwei Monate später erfolgreich und gesund schlüpfte. Auch das zweite Ei nahm Tahi unter seine Fittiche und seitdem werden im jedes Jahr seine Enkelküken anvertraut.
Besonders schön ist es zu sehen, wie viel Befriedigung er aus seiner Verantwortung zieht. Er ist vollkommen in seinem Element und scheint es regelrecht zu genießen eine Beschäftigung zu haben. Für mich ist er auf seine Weise ein echter Held.

Am Abend des zweiten Tages helfe ich Carmel gerade dabei, das Nachthaus wieder zu schließen, als sie mich fragt, ob ich nicht bei ihr wohnen möchte, während ich in Rotorua bin. Ihr behagt der Gedanke nicht, dass ich bei diesem seltsamen Mann hause. Da sie eine wirklich goldige Frau ist und wir uns gut verstehen, sage ich auch sofort dankbar zu. Jacko habe ich kaum gesehen, seit ich bei ihm untergekommen bin und er ist nie in der Stimmung mir etwas über seine Vergangenheit zu erzählen oder meine Fragen zur Maori-Kultur zu beantworten, was ich sehr schade finde. Carmel würde mich auch morgens in ihrem Auto mitnehmen, das heißt, wir könnten gemeinsam zur Arbeit fahren. Mir gefällt die Idee immer besser und versetzt mich in Hochstimmung.

Doch erstmal haben wir uns ums Nachthaus zu kümmern. Das geht recht schnell – wir müssen lediglich die Futterreste einsammeln, abwiegen und die Menge im Futterbuch notieren, alle Türen abzuschließen und unserer ältesten Kiwidame "TK" ("Ti-Key") Zugang zu ihrem Haus zu geben. Normalerweise haben alle Nachthaus-Kiwis auch tagsüber, wenn das Licht ausgeschaltet ist und die Tiere fressen und sich bewegen sollten, die Möglichkeit sich zurückzuziehen, aber TK ist ein Sonderfall. Wäre der Eingang ihres Hauses stets offen, würde sie sich nämlich überhaupt nicht blicken lassen und nur in ihrem warmen Nest hocken. Wir müssen sogar sämtliche Tunnel, die sie sich tagsüber gräbt, wieder zuschütten. Es geht dem gesamten Team gegen den Strich TK zu Publikumsverkehr zu nötigen, aber so sind leider die Richtlinien von Rainbow Springs, da sie dem Park nur als Präsentiervogel nützlich ist. Eier darf sie nämlich keine legen, weil sie eine Gebärmutterfehlbildung hat und einmal fast dabei gestorben wäre.

Derzeit hausen insgesamt vier Kiwis im Nachthaus: Nouveau, Empire, Fluffarse und TK. Die ersten drei sind Küken und werden bald in ihrem Heimatwald ausgewildert oder in einer Einrichtung dort untergebracht. Benannt wurden alle Kiwiküken der letzten Saison übrigens nach neuseeländischen Künstlern. Für jede Saison überlegt sich das Kiwiteam ein Hauptthema mit Neuseelandbezug nach dem die Namen ausgewählt werden.
Fluffarse ist allerdings kein Künstler. Eines der Teammitglieder wollte ihn „fluffy ass“ (flauschiger Hintern) nennen, aber das wurde nicht gestattet. Deshalb wandelten sie es in Fluffarse um und wenn nun ein Besucher nach der Bedeutung fragt, sagen sie, es sei französisch. Nur einmal gerieten sie dabei in Verlegenheit, als die Besucher zufällig selbst Franzosen waren und beteuerten, dass dies kein ihnen bekanntes Wort sei.
Anfangs wurden einige Küken auch nach Personalmitgliedern oder deren Kindern benannt, aber diese Sitte wurde recht bald abgeschafft, da es traurig und ein schlechtes Omen ist, wenn entweder der Mensch oder das nach ihm benannte Tier frühzeitig stirbt.

TK ist dagegen schon sehr viel älter und trägt die Abkürzung für einen zweiteiligen Maorinamen, den ich zwar mal irgendwo gelesen, aber wieder vergessen habe. Man kennt ihr genaues Alter nicht, aber vor etwa 30 Jahren wurde sie eingefangen und lebt seitdem im Nachthaus von Rotorua, das damals noch viel kleiner, weniger aufwändig und von keinem Erlebnispark umschlossen war. Der Naithau-Stamm, auf dessen Land es erbaut wurde, kümmerte sich darum. Heute hat dieser „Iwi“ (Stamm) direkt neben Rainbow Springs ein Maori-Dorf namens „Mitai“ gebaut, in dem Touristen einen oberflächlichen Einblick in deren Kultur erhaschen können.
TK ist mager, struppig und hat einen selbstbewussten, eigenwilligen Charakter. Wenn ich oder eine andere Pflegerin ihr Terrarium kurz vor Feierabend betritt, um die Futterreste einzusammeln und sie nicht zufällig in einer Ecke zusammengerollt schläft, kommt es meistens vor, dass sie uns attackiert. Zwar tragen wir hohe Gummistiefel und so können uns ihre Fußtritte mit den scharfen Klauen nichts anhaben, aber ich erschrecke trotzdem jedes Mal, wenn sie aus einer der dunklen Ecken auf mich zugerast kommt, dabei fauchende, katzenartige Laute ausstößt und immer wieder gegen meine Beine rennt.

Es dauert ein paar Tage, bis mich die Vögel kennen und ihnen mein Erscheinen kein Unbehagen mehr bereitet – bis auf TK natürlich. Nach etwa einer Woche bleibe ich an einem Nachmittag etwas länger in Nouveaus Gehege sitzen, nachdem ich sein Futterschälchen eingesammelt habe und sehe ihm dabei zu, wie er mit seinem Schnabel in der Erde herumstochert. Dabei kommt er mir immer näher. Nun fange auch ich an, Schnüffellaute von mir zu geben, um ihn von meiner Anwesenheit zu warnen, damit er nicht in Panik davonrennt, wenn er plötzlich, nur auf das Aufspüren von Würmern konzentriert, über mich stolpert.
Das scheint jedoch seine Neugier zu wecken und er stakst schnurstracks auf mich zu. An meinen Gummistiefeln angekommen, untersucht er diese erstmal gründlich und testet deren Geruch und Material. Nachdem er sich versichert hat, dass man diese nicht essen kann, watschelt er gemächlich weiter um mich herum und schnüffelt die Erde ab. Er ist nur noch ein paar Zentimeter von meiner Hand entfernt und da sich noch ein bisschen Rinderherzragout in seinem Napf befindet, halte ich ihm einen der größeren Brocken entgegen.
Mein eigenes Herz schlägt schneller, als er ihn mir vorsichtig mit seinem Schnabel aus den Fingern nimmt – so vornehm, als benutze er Essstäbchen – und hinunterschluckt.
Nichts kann das glückselige und mit Sicherheit recht dümmliche Grinsen für die nächsten Stunden von meinem Gesicht wischen, selbst als ich abends in Jackos bedrückende Wohnung zurückkehre.

Dort informiere ich ihn von Carmels großzügigem Angebot, dass ich morgen früh gleich all mein Gepäck mit zur Arbeit nehmen und am Abend mit ihr zusammen heimfahren werde. Sie wäre tatsächlich noch heute mit mir meine Sachen holen gegangen, aber ich habe nicht gepackt und ein so plötzlicher Aufbruch würde doch ziemlich nach Flucht aussehen.
Seltsamerweise macht Jacko daraufhin einen fast beleidigten Eindruck. Ich dachte er sei froh, eine Person losgeworden zu sein, da er sich ohnehin nicht wirklich um uns schert. Aber irgendwie kränkt es ihn, dass ich Carmel ihm vorziehe.
Als er mir allerdings berichtet, das morgen noch zwei weitere Couchsurfer kämen und bereits heute ein neues Mädchen eingetroffen ist – er nimmt nur Frauen, weil alle im Zimmer seiner armen Tochter untergebracht werden – erstickt Erleichterung die aufkommenden Schuldgefühle. Ich wäre lediglich gespannt zu sehen, wie er sechs Personen in dem winzigen Raum unterzubringen gedenkt.

Am nächsten Morgen stehe ich an der Hauptstraße vor Jackos Haus und warte auf Bev, ebenfalls ein  Kiwi-Teammitglied, die auf dem Weg zur Arbeit ohnehin immer hier vorbeikommt und mir den Fußweg mit schwerem Gepäck ersparen will.
Heute ist sie mein Mentor, da jeder aus dem Team nur drei oder vier Tage pro Woche arbeitet. Sie schaut mir im Nachthaus über die Schulter und fährt mich netterweise nach Feierabend auch bei Carmel vorbei, die heute spontan frei genommen hat.
Bei ihr bekomme ich mein eigenes kleines Zimmer, das früher einem ihrer Söhne gehörte und nun leer steht. Darin befindet sich auch ein großes Bett mit dicken Decken. Es ist nämlich hier in Rotorua um einige Grad kälter als and der Nordküste, dabei liegt die Stadt nicht einmal in der Nähe der Inselmitte. Morgens bedeckt sogar schon Raureif die Wiesen. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich meinen Geburtstag im Winter feiern. Schon eine lustige Vorstellung.
Carmel hat eine Labradorhündin namens Bessi und es wird von diesem Tage an mein Vergnügen sie abends und manchmal morgens auf den momentan ungenutzten Kuhweiden Gassi zu führen. Auch wenn ich nach der Arbeit müde bin, kann ich einfach nicht anders, als mich von ihrer stürmischen Begrüßung anstecken zu lassen, wenn sie, wild mit dem Schwanz wedelnd auf uns zugaloppiert kommt, Stöcken, lange Flachsblätter oder ähnliches anschleppt und uns damit zum Fangen spielen animieren will. Ich verfalle ihr bereits bei unserer ersten Begegnung hoffnungslos.

Die zwei Voluntärwochen vergehen natürlich viel zu schnell. Bis auf das Zubereiten des Kiwifutters und das Öffnen, bzw. Schließen des Nachthauses bekomme ich jeden Tag andere kleine Aufgaben. Sehr oft – ich will euch hier nichts vormachen – dreht es sich allerdings nur um das Schrubben und Desinfizieren der vollgekackten Futtertunnel- und häuschen oder Ausspülen der Trinkschalen. Alle paar Tage fege ich die gefallenen Blätter auf den Wegen vor den Gehegen zusammen, wasche (ebenfalls vollgekackte) Handtücher oder Hemden aus der Quarantänestation, in der sich nun ein anderer Kiwi befindet, oder helfe beim jährlichen Trimmen der Bäume und Sträucher in den leeren Gehegen.
Das Lebendfutter wie Grillen, Würmer und Maden muss natürlich auch versorgt werden. Einmal fällt mir die allseits beliebte Tätigkeit zu, das Mehlwurm-Terrarium zu reinigen. Dazu siebt man eine Mischung aus den sich windenden Würmern, leeren verpuppten Chitinhüllen, schwarzen lebenden oder toten Käferchen – zu denen sie sich später entwickeln – und Sand in eine Schüssel, um letzteren von der Fauna zu trennen. Da das meiste ohnehin Sand ist, hat man dann im Sieb nur eine kleine Hand voll Tiere – tot oder lebendig, mit denen man dann Aschenputtel spielen und die Guten von den Schlechten trennen muss. Die sich windenden oder krabbelnden ins ausgewaschene Terrarium, die toten in den Müll.

Zweimal pro Woche müssen die Vogelküken einen Gesundheitscheck über sich ergehen lassen. Wenn eine bestimmte Anzahl an eingeschickten Kot- und Blutproben unauffällig ist, dürfen sie daraufhin ausgewildert werden.
Leider sind nicht alle Tiere beschwerdefrei. Wir haben derzeit mit einer Vogelpocken-Epidemie zu kämpfen, sowie einigen Fällen von Salmonellen und Campylobacter, die auch auf den Menschen übertragbar sind. Daher müssen wir uns regelmäßig die Hände waschen und für jeden Kiwi ein anderes Untersuchungshemd anziehen, um zu verhindern, dass die Krankheiten von Gehege zu Gehege übertragen werden. Natürlich ist es nicht komplett zu verhindern, da die Ausläufe nicht überdacht sind und somit Amseln, Spatzen, Tuis und Wildtauben manchmal die Erreger ungewollt verbreiten, wenn sie sich an den Trinkschalen bedienen und ihr Geschäft hinterlassen.
Doch mit so einer Gefahr müssten die Vögel eventuell auch in der Wildnis zurechtkommen und den Vorteil, den die momentan befallenen Kiwis daraus ziehen, ist die lebenslange Immunität gegen eine weitere solche Erkrankung. Zudem haben sie hier weitaus größere Chancen heil davon zu kommen, denn sie werden liebevoll behandelt.

So ein Kiwi-Check läuft gewöhnlich folgendermaßen ab:
Zuerst wird das Tier gewogen und das Gewicht mit der letzten Messung verglichen. Bei Küken sollte es daher höher sein als das vorherige, da sie noch wachsen.
Dann werden optisch Augen, Füße, Beine, Schnabel und Federn eingeschätzt, gefolgt von einer Milbenkontrolle.
„Avian Pox“ – wie die Vogelpocken genannt werden erkannt man zuerst am Schnabel, wenn sich dort weiße, brüchige Stellen zeigen. Ganz wie bei unseren Fingernägeln, wenn wir eine Mangelerscheinung haben.
Das unangenehmste für ein mit Salmonellen erkranktes Tier ist mit Sicherheit das Einflößen des Medikaments, um zu verhindern, dass es innerlich austrocknet. Sie neigen dann nämlich dazu, weniger Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Das Einflößen geschieht durch einen langen, weichen, etwa wurmdicken Plastikschlauch, der zuvor in abgekochtem Wasser aus einer Thermosflasche angewärmt wird, um eine zusätzlichen Schock zu vermeiden. Wie schon zuvor erwähnt befindet sich in der Zunge des Kiwis ein Loch, weshalb das Verabreichen nur mit diesem Schlauch möglich ist.
Alle paar Wochen wird Blut abgenommen oder eine Stuhlprobe gemacht, die anschließend an die Universitätsklinik „Messy“ zur Untersuchung geschickt wird. Kurz nach Schlüpfen des Kükens wird ihm übrigens ein kleiner Sender unter die Haut geschoben, durch welchen man sie später überwachen und wieder ausfindig machen kann.

Als sich meine zweite Woche und damit der Juni dem Ende nährt, bitte ich Toni und Claire um eine Verlängerung bis Ende Juli. Es gibt noch immer so viel zu lernen und ich bin dem Team gerade erst richtig nützlich geworden.
Zum Glück hat niemand etwas dagegen und auch Carmel freut sich, dass ich weitere vier Wochen bei ihr wohnen werde. Ich habe ihr übrigens ein paar hundert Dollar für die Mehrkosten aufgedrängt, denn wir kochen jeden Abend zusammen und gönnen uns ein kleines Gläschen Wein vor dem prasselnden Kaminfeuer. Ich habe mich inzwischen sehr gut bei ihr eingelebt und wir sind uns in vielen Dingen so wahnsinnig ähnlich, dass es mich immer wieder erstaunt. Dazu gehört unter anderem unser Buchgeschmack. Sie liest glücklicherweise ebenso gern, kennt fast all meine Lieblingsbücher und besitzt ein großes Regal voll in ihrem Wohnzimmer. Ich bekomme zum Einzug auch gleich einen Stapel mit von ihr ausgewählten Werken in die Hand gedrückt die ich „unbedingt zu lesen“ hätte.

Mit soviel mehr Zeit hier habe ich auch endlich die notwendige Ruhe, um mir die Umgebung anzusehen. Dadurch dass ich bei Rainbow Springs arbeite, bekomme ich sogar auf einige der Touristenattraktionen Rabatt oder darf umsonst rein. Dazu gehören unter anderem das besagte Maoridorf „Mitai“, der Thermalpark Wai-O-Tapu mit seinen vielen blubbernden Schlammseen und kochend heißen, vielfarbigen Quellen und ein Redwood-Park aus den kalifornischen Riesenbäumen – den ich zusammen mit Bessi an der Leine erkunde. 






Ich habe meine freien Tage auf Carmels gelegt, damit ich ihr beim Hausputz helfen kann und es kein Transportproblem zur Arbeit gibt. So fährt sie mit mir an einem davon zum nahe gelegenen verschütteten Dorf „Te Wairoa“, das im Jahre 1886 beim Ausbruch vom Vulkan Tarawera unter einer Lava- und Ascheschicht begraben wurde. Dabei wurden leider auch die berühmten rosa und weißen Terrassen zerstört, die Neuseeland zum achten Weltwunder erklärt hatte. Durch die hohe vulkanische Aktivität liegt überall der Geruch nach Schwefel in der Luft. Viele vergleichen ihn mit dem fauliger Eier und empfinden ihn als unangenehm, aber für mich riecht es eher sauber, gesund und mineralhaltig und erinnert mich an die heißen Quellen (Onsen) in Japan, die ich so liebe.

Auf dem Foto seht ihr den Vulkan Tarawera - der linke Berg mit der abgeflachten Kuppe:


Als ich an einem anderen freien Tag nach Wai-O-Tapu trampe, holt sie mich dort am späten Nachmittag ab und zeigt mir anschließend einen anderen atemberaubenden, hochaktiven Schlammsee, der ganz umsonst zugänglich ist. Sie hat des Öfteren von einem heiß-kalten Strom geschwärmt, wo man sich gut entspannen kann und vorgeschlagen, dort den Abend ausklingen zu lassen. Im Badeanzug laufen wir also nach Anbruch der Dunkelheit vom Auto, das wir am Rande einer ruhigen Straße geparkt haben zu dem Fluss. Er führt unter einer Brücke entlang, auf der die besagte Straße entlangführt. Man hat heutzutage einen komfortablen Zugang über kleine Stege und Holztreppen. Sein Hab und Gut kann man ohne Bedenken dort zurücklassen.
Das Wasser ist recht flach, wunderbar warm und fließt nur langsam stromabwärts. Ich habe noch nie zuvor in einem heißen Fluss gebadet. Nachdem wir uns eine Weile in dem kleinen Becken gesuhlt haben, das mithilfe von provisorischen Steinwällen geschaffen wurde und uns ein wenig zu warm wird, lassen wir uns unter der Brücke hindurch flussabwärts treiben. Dort vereinigt sich der heiße Strom mit einem anderen, jedoch kalten Fluss und man kann die einzigartige Erfahrung machen, mit dem Oberkörper in angenehmen lauwarmen Temperaturen zu treiben, während die Beine kühl und frisch umspült werden. Es treffen noch einige andere Badegäste ein und es entwickelt sich ein unverfangenes Gespräch. Erst nach zwei Stunden können wir uns langsam vom entspannenden Wasser und der netten Atmosphäre trennen. Ich finde es bemerkenswert, dass ein solcher Schatz noch nicht touristisch erschlossen und gebührenpflichtig gemacht wurde. Es ist nach wie vor ein Insider-Tipp, an dem nur Leute aus der Region zusammentreffen.

Bevor sie anfing, bei Rainbow Springs zu arbeiten, engagierte sich Carmel für den Kokako, einem gefährdeten Kollegen des Kiwis. Dieser Vogel hingegen kann fliegen, auch wenn er lieber in den Baumkronen herumhüpft und selten größere Strecken per Flügelschlag zurücklegt. Er zeichnet sich durch sein blaugraues Gefieder, eine schwarze Gesichtsmaske, sowie die markanten marineblauen Backenlappen aus. Sein nächster Verwandter, der Südinsel-Kokako mit den blau-orangenen Backenlappen ist leider inzwischen ausgestorben.
Dieser Vogel ist unter anderem für seinen wunderschönen Gesang bekannt. Es heißt in verschiedenen Vogelführern: „sobald ein Kokako anfängt zu singen, scheint die restliche Welt den Atem anzuhalten, um ihm zuzuhören“.
Damals half Carmel diese Tiere mit großen Netzen einzufangen, um sie zu einem Schutzzentrum zu bringen, wo sie gezüchtet und in Gebieten mit geringer Anzahl von Fressfeinden ausgewildert wurden. Der Kokako ist noch immer so stark vom Aussterben bedroht, dass man Anträge stellen muss, um brütende Paare für ein Vogelschutzreservat zu bekommen. Die Weibchen sind sehr kritisch, was ihre Partnerwahl angeht und lassen sich Zeit um den Richtigen zu finden, mit dem sie dann bis an ihr Lebensende zusammen bleiben. Zeit, die diese Art nicht mehr hat und die Auswahl an passenden Männchen ist inzwischen natürlich auch stark beschränkt. Brütende Paare sind daher sehr wertvoll und selten.

Eines Abends bekommt sie einen Anruf von einer Schule, die im Rahmen des Kokako-Schutzprojekts einen Schreibwettbewerb veranstaltet. Carmel soll die Kinder in den Wald führen und dort, mit etwas Glück, einen der raren Vögel anlocken, damit die Schüler ihn und seinen Lebensraum etwas studieren und einen Eindruck davon bekommen können. Sie freut sich, gefragt worden zu sein und lädt auch mich zu dieser Erfahrung ein.
Wir nehmen uns für dieses Erlebnis frei und fahren in der frühen Morgendämmerung in den Wald, wo wir auf die Kinder und einige freiwillige Erwachsene warten, die bei der Aufsicht helfen. Etwa eine Stunde folgen wir dem kleinen Pfad durch das Gehölz, den Carmel und ich bereits am gestrigen Abend zur Kontrolle abgegangen sind, um ihn in Ordnung zu bringen. Dann kommen wir an eine kleine Lichtung, die gerade genug Platz für die etwa 25 Personen bietet. Hier setzten wir uns auf den Boden, während Carmel mit ihrem Abspielgerät ins Unterholz verschwindet, um einen Kokako mit seinem eigenen, aufgezeichneten Gesang anzulocken. Leider funktioniert dieses Vorhaben nicht. Wir hören nur den Rekorder und eine weit entfernte Antwort, der jedoch kein Erscheinen folgt, aber dennoch sind die Lehrer zufrieden mit dem kleinen Abenteuer. Auch ich nehme ein wenig mehr Wissen über dieses seltene Tier mit.
Bevor alle nach Hause fahren, wird das Erlebte noch einmal besprochen. Während die Schüler ihre Eindrücke schildern und an eine Tafel schreiben, unterhalte ich mich mit den Erwachsenen. Einer davon ist Don, ein Ranger, der einen Holzhandel betreibt und mich fragt, ob ich nicht Lust hätte, ihn an einem meiner nächsten freien Tage nach Waitomo, an die Westküste zu begleiten, wo er einiges Unkraut mit dem Helikopter besprühen muss. Ich nehme freudig an und hoffe insgeheim natürlich, dass ich bei dieser Gelegenheit einmal mitfliegen darf. Ich darf. Allerdings erst ganz am Ende des langen Tages, den ich hauptsächlich im sonnigen Gras liegend verbringe, während Don und sein Kollege unermüdlich im 10-Minuten-Takt den gelandeten Helikopter mit Pflanzengift und Benzin voll tanken. Dennoch lohnt sich das Warten. Der Flug über die wunderschöne Landschaft ist unbeschreiblich, trotz des Dröhnens und Vibrierens im Innern.


Eines Tages bekommen wir eine besondere Lieferung. Ein Kiwi-Ei aus Taranaki. Bob und Karen Schumacher, die ein Schutzprojekt dort in Purangi auf die Beine gestellt haben, bringen die wertvolle Fracht.
Sie wollten einen Sender an einem der Kiwis auswechseln, weil diese nur etwa ein Jahr lang funktionieren und die Zeit bald um ist. Sie haben zuvor gewissenhaft mit ihrer Antenne die Signale abgehört und ausgewertet, an denen sich bestimmen lässt, was der Vogel gerade tut und waren davon überzeugt, dass er nicht brütet. Die Signale deuteten dagegen auf hohe Aktivität hin. Leider jedoch stellte sich dies als Irrtum heraus und sie überraschten den Kiwi auf dem Ei in seinem Nest. Normalerweise verlassen diese Vögel ihr Gelege, wenn sie einmal aufgestöbert werden, deshalb wollten Bob und Karen kein Risiko eingehen und nahmen es mit. 
 
Claire öffnet die mit Decken und einer Wärmflasche liebevoll gepolsterte Kiste, entnimmt das Ei und trägt es behutsam in das Untersuchungsbüro. Dort wird es gewogen und gemessen. Anschließend legt sie besondere Schutzkleidung an und begibt sich in den isolierten Brutraum. Wir dürfen nicht mit und können nur durch ein Fenster verfolgen, wie Claire das Ei ableuchtet. Dabei muss man aufpassen, dass es immer waagerecht und ruhig gehalten wird. Wendet man es zu häufig, zu schnell und in unterschiedlichen Richtungen, stellt man es auf den Kopf, lässt die Spitze nach oben zeigen oder schüttelt es gar – wenn auch nur leicht – leidet der empfindliche Embryo oder das Dotter und es gibt eine Fehlentwicklung die im Absterben des Eis enden kann.
Unser Ei enthält noch keinen erkennbaren Embryo, es kann also nur einige Tage alt sein. Der luftgefüllte Hohlraum ist mit der starken Taschenlampe jedoch klar zu erkennen und wird mit einem Bleistift auf der Eierschale skizziert. Er bleibt immer an der gleichen Stelle, wenn man das Ei vorsichtig behandelt und nimmt mit der Entwicklung an Umfang zu, dessen wöchentliche Veränderung akribisch eingezeichnet wird.



Später in der Frühstückspause erzählen uns Bob und Karen von ihrem Projekt. Sie waren über 30 Jahre lang Milchbauern und wollten in ihrem Ruhestand etwas Sinnvolles tun. Deshalb kauften sie Land in Purangi, von dem sie wussten, dass einige Kiwis dort lebten und fingen an, intensive Fressfeindekontrolle (zu Englisch „pest control“) zu betreiben. Im Wesentlichen geht es dabei um das Aufstellen und regelmäßige Kontrollieren von Ratten- und Opossumfallen, in die natürlich auch Mäuse und Wiesel tappen. Außerdem sprachen sie mit den Besitzern der Grundstücke rings herum und motivierten diese, sich ihrem Projekt anzuschließen. Einige waren sofort mit Begeisterung dabei und überwachen auch die Fallen auf ihrem Land selbst, andere sahen erst einmal eine Weile zu, wie sich die Sache entwickeln würde, waren letzten Endes jedoch in den meisten Fällen überzeugt und ließen immerhin zu, dass Bob Fallen dort positionierte. Zusammengezählt umfasst das geschützte Gebiet nun etwa 13.000 Hektar! Seit sie in 2005 damit begonnen haben, hat sich der Bestand der brütenden Kiwipärchen auf geschätzt 350 Stück vergrößert und soll bis 2015 sogar 500 erreichen. Auch sie beteiligen sich an „Operation Nestegg“.

Ich finde die Initiative, die die beiden an den Tag legen außergewöhnlich und frage vorsichtig, ob sie auch Voluntäre beschäftigen würden.
„Natürlich!“, sagt Karen daraufhin. „Für Voluntäre gibt es bei uns immer etwas zu tun.“
Dadurch ermutigt erzähle ich ihr von meinem Interesse für Tierschutz und dass ich gerne Erfahrungen im freien Feld mit den notwendigen elektronischen Geräten machen würde. Für das Kakapo-Projekt ist dieses Wissen nämlich notwendig.
Ich bekomme auch sofort eine Zusage. Momentan hätten sie keinen Voluntär, da im Winter meistens keine hochinteressanten Tätigkeiten anstünden, aber zufällig käme am 29. Juli ein Voluntär-Team aus Wellington, darunter ein Angestellter von DOC, das in drei Tagen ca. 200 neue High-Tech Opossumfallen montieren würden. Ein weiteres Paar Hände könnten sie dabei gut gebrauchen. Anschließend könnte ich helfen, alte Fallen in Stand zu setzen und Bob bei den Kontrollfahrten begleiten. Bezahlen muss ich für das Projekt nichts, im Gegenteil, ich bekomme als Dank für meine Hilfe Unterkunft und Verpflegung von den Beiden gestellt.
Das hört sich natürlich sehr interessant an und ich verspreche am 28. den Bus nach New Plymouth zu nehmen.

Nun, da ich länger als ursprünglich geplant bei Kiwi Encounter helfen werde, hat Claire auch beschlossen mir zu zeigen, wie man einen Kiwi richtig hält. Dafür bietet sich der Gesundheitscheck an, zu dem die Vögel ohnehin gestört werden müssen.
Es gibt zwei Methoden: Die idiotensichere für steiles Gelände im Wald, bei der man das arme Tier an den Füßen kopfüber baumeln lässt, die dem Kiwi aber sicherlich nicht besonders gut gefällt und daher hier nicht praktiziert wird, sowie die angenehmere, bei der man ihn eher wie ein Kaninchen hält.
Wichtig ist immer, dass man Kontrolle über die kräftigen muskulösen Füße behält und zugleich den Brustkorb stützt.
Kiwi „Dynamite“ ist mein erster Übungspartner. Aufgeregt streife ich mir eines der übergroßen, verwaschenen und zerschlissenen Hemden über. Mein ausgebeultes Exemplar ist längs gestreift, von einem hellen graublau und ich muss die Ärmel hochkrempeln um meine Hände überhaupt benutzen zu können. Anschließend begleite ich Teammitglied Helen zum Gehege. In diesem halten sich sogar gleich vier der halbwüchsigen Kiwis auf. Noch vertragen sie sich gut und da sie alle unter Salmonellen leiden, lässt man sie zusammen. Das macht weniger Arbeit, denn später muss der Boden des infizierten Käfigs komplett abgetragen werden, um die Erreger zu beseitigen. Zudem hat man beim Betreten ein Extrapaar Gummistiefel anzuziehen. (Schuhe müssen aus Gesundheitsgründen fast überall gewechselt werden. An einem einzigen Tag benutze ich bis zu fünf verschiedene Paare für Nachthaus, Küche, Besucherwege und die Gehege.)
Endlich geht es los. Helen macht mir vor, wie es funktioniert: In die Hocke gehen, den Kiwi in seinem Tunnel ertasten, meine Finger zwischen seine Fußknöchel schieben – damit die Beinchen nicht aneinanderscheuern,  die Füße fest – aber nicht zu fest – mit meinen Fingern packen, den Vogel vorsichtig aus seinem Bau herausziehen, sobald wie möglich seinen Brustkorb mit meiner anderen Hand abstützen und das Tier den Rest des Weges waagerecht halten. Dann meine Finger leicht drehen, damit ich ihn gegen meinen Oberkörper drücken kann, dem Kiwi die Chance geben seinen Kopf unter meinen Arm zu stecken und mit selbigen das Tier leicht gegen mich pressen.
Als Dynamite mehr oder weniger glücklich in meinem Arm liegt, kommt es mir sehr vertraut vor. Es ist wirklich fast so, als würde ich ein Kaninchen halten, bei dem man ebenfalls aufpassen muss, dass es nicht herunterspringt. Helen hat noch Verbesserungsvorschläge. Sie justiert den Winkel meiner Arme und Hände leicht, bis ganz zufrieden ist und die Untersuchungen beginnen können. Ich darf danach noch Rakaat halten, selbst als der Schlauch für das Medikament eingeführt wird und der Kiwi stark zu strampeln beginnt. Ich packe etwas fester zu und er gibt auf. Manche Tiere lassen diese Prozedur dagegen fast gleichgültig über sich ergehen.

Bei einer unserer Smokos (Teepausen), bei Kaffee und verschiedenen Kuchen – die ich immer von meinen Cafégutscheinen von Toni besorge – werden die ersten Freilassungen der Küken besprochen. Einige haben bereits ihr notwendiges Gewicht erreicht und auch die erforderlichen Gesundheitstests bestanden. Sie sind soweit, um im Wald zu überleben.
Einige werden von den gleichen Projektmanagern abgeholt, die über ein halbes Jahr zuvor die Eier nach Rainbow Springs brachten. Andere werden von den Teammitgliedern „ausgeliefert“. Darunter auch „Uruiti“, „Ridgey“ und „Frizzell“, die alle zurück nach Taranaki gebracht werden müssen. Carmel bietet an, dies zu erledigen, da sie ohnehin schon lange ihren Onkel dort ganz in der Nähe besuchen will. Und weil ich mal wieder Glück habe, darf ich auch mit.
Als der 10. Juli endlich anbricht, fahren wir wie immer zum Erlebnispark. Dort warten bereits die grünen Transportboxen aus Plastik, die ich am Vortag mit trockenen und frischen Silberfarnblättern ausgepolstert habe. Nach einer letzten Begutachtung werden die ausgewählten Kiwis hineingesetzt und auf dem Rücksitz festgeschnallt.
Die ersten Meter Hauptstraße sind sehr unruhig. Die Fahrbahn scheint heute in besonders schlechtem Zustand zu sein und wir hören, wie die Vögel in ihren Boxen hin- und herstolpern. Offensichtlich sind sie nicht entspannt genug, um sich hinzusetzen. Also klemmt Carmel einige Reisekissen als Stoßdämpfer zwischen die Plastikkisten und legt eine Wolldecke darüber, um das Licht etwas zu dämmen. Tatsächlich scheint das zu helfen, denn wir hören die ganzen restlichen vier Stunden, die die Fahrt bis New Plymouth dauert, keinen Mucks mehr von hinten. Zwei der Kiwis werden schon vor diesem Ziel an einem Rastplatz in die Obhut der zuständigen Tierschützer gegeben und so ist nur noch Frizzell übrig, der vom Mt. Egmont – oder auch Berg Taranaki, wie er von den Maori genannt wird – als Ei zu uns kam.
Seine drei Schutzbefohlenen erwarten uns schon ungeduldig und nach einer herzlichen Begrüßung geht es ab in den feuchten Wald. Es hat auf der Hinfahrt schon begonnen zu nieseln, doch jetzt regnet es tatsächlich. Wir laufen zunächst einen breiten Wanderweg entlang, der in ein einigermaßen ausgetrocknetes Flussbett übergeht und biegen nach einer Weile dann auf einmal rechts ab. Hier folgen wir nur noch einem Trampelpfad, der, zu meinem Leidwesen, durch einen Haufen nicht ausgetrockneter Tümpel und Flüsschen führt. Abwechselnd tragen wir die Transportkiste mit dem nicht sehr schweren Kiwi, aber da man sie sehr ruhig halten und alle Stöße abfangen muss, wird sie nach einigen Minuten doch rech lästig.
Nach etwa eineinhalb Stunden kommen wir – nirgends – an. Wir halten lediglich irgendwo auf dem Trampelpfad neben einem großen umgestürzten Baum und klettern durchs Dickicht. Dort befindet sich eine kleine Höhle in einer niedrigen Lehmwand. Dieser Bau, so wird mir erzählt, sei extra für Frizzell gegraben worden. Obwohl recht neu, muss er kurz abgetastet werden um sicher zu gehen, dass sich inzwischen niemand anderes dort häuslich niedergelassen hat.
Eine der Frauen holt Frizzell aus seiner Kiste. Er wird ein letztes Mal kurz untersucht und dann, mit dem Kopf voran, in sein neues Zuhause geleitet. Ob es sich als solches etabliert ist nicht sicher. Kiwis haben normalerweise mehr als einen Unterschlupf, den sie nur für eine Nacht nutzen und dann weiterwandern. Meistens gibt es jedoch einen Hauptbau – meist unterirdisch – den der Vogel allen anderen vorzieht und regelmäßig dorthin zurückkommt



Als Frizzell sicher in der Höhle verschwunden ist, machen wir uns langsam auf den Rückweg. Die Stimmung ist fröhlich. Ein Kiwi mehr im Wald. Wir hoffen alle, dass er sich gut eingewöhnen und sein neues Leben genießen wird.



Auf dem Heimweg nach Rotorua, der zunächst an der Westküste entlangführt, machen Carmel und ich einen kurzen Abstecher zum Meer. Dort herrscht gerade Ebbe und sie berichtet mir von einer Felsformation die „drei Schwestern“ genannt wird und die nur zu erreichen ist, wenn sich das Meer zurückgezogen hat. Also brechen wir gleich auf. Entlang der Steilküste klettern wir über große, glitschige Steine, bis wir eine sandige Ebene erreichen, die normalerweise von Wasser bedeckt ist. Einige große Felsen mit grünem Bewuchs auf der Spitze ragen hier und dort aus dem Sand. Viele weisen Tunnel und Höhlen auf, die zu erkunden viel Spaß macht. Dann kommen wir an die Stelle mit den benannten Steinformationen. Ich kann nur zwei dieser hochragenden, spitzen Felsen identifizieren. Der dritte muss inzwischen von Erosion abgetragen und fortgeschwemmt worden sein. Dennoch legen wir eine kurze Gedenkpause ein, in der wir beide im Herzen unsere Schwestern grüßen – die meinigen ein wenig weiter entfernt als Carmels.

Langsam wird es auch Zeit für mich, meine Visumsverlängerung zu beantragen. Durch die Arbeit im Packhaus ist es mir beinahe gelungen, die 90 geforderten Tage im Gartenbau zusammenzubekommen. Nur vier oder fünf Tage fehlen – je nachdem wie man rechnet. Doch da ich nicht ein volles Jahr Zeit hatte im Gartenbau zu arbeiten, jeden angebotenen Arbeitstag genutzt habe und die Saison jetzt ohnehin vorbei ist, glaube ich gute Chancen zu haben, die Verlängerung dennoch zu erhalten.
Leider ist es nicht ganz so unkompliziert wie gedacht. Emma, ein weiteres Teammitglied, die erst vor kurzem aus ihrem dreimonatigen Heimaturlaub in England zurückgekehrt ist, hätte mich nach Hamilton mitgenommen, wo die für mich zuständige Behörde steht. Bei genaueren Erkundigungen stelle ich jedoch fest, dass ich das ausgefüllte Formular, die Kontoauszüge (als Beleg über ausreichend finanzielle Mittel) und meinen Original-Reisepass nur einschicken darf. Das macht mir natürlich ein wenig Bauchweh. Wenn man sich auf der anderen Seite der Erdkugel in einem fremden Land befindet, schickt man seinen Reisepass nicht so gerne einfach weg. Bei der Post kann ich zwar eine Zustellungsbescheinigung erwerben, aber die nützt nicht viel, weil die Filiale in Hamilton nur eine Postbox besitzt und niemand den Rückschein unterschreiben kann. Ich schließe die Versicherung dennoch ab. Erstens, weil sie nicht viel kostet und zweitens, damit die Behördenangestellten sehen, dass mir meine Dokumente wichtig sind und ihnen dadurch hoffentlich mehr Aufmerksamkeit schenken. Außerdem schreibe ich einen Brief, in dem ich meine Geschichte mit dem ungeplanten Zwischenstopp in Deutschland und meiner Operation erkläre. Falls es dort menschlich zugeht, werden sie bestimmt ein Auge zudrücken, was die fehlenden Arbeitstage angeht. Mit einem kurzen Stoßgebet gebe ich den dicken Umschlag in der Post auf.

Eines Morgens, als ich wie immer das Nachthaus betrete, um es aufzuschließen und für den Tag vorzubereiten, habe ich ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Ich spähe nach den Kiwis, aber es ist so dunkel, dass ich sie nicht sehen kann.
Dunkel?
Warum ist es dunkel?
Es muss doch über Nacht erleuchtet sein, damit die Tiere schlafen können. Und ich habe die Lichtschalter doch noch gar nicht betätigt.
Mist, denke ich mir, da habe ich wohl am Abend vergessen, die Lampen anzuknipsen und noch dazu die Rotlichtlampen ausgeschaltet. Alles war komplett finster.
Ziemlich zerknirscht gestehe ich meinen Fehler über das altmodische, ziegelsteinartige Walkie Talkie, das schwer an meinem Hosenbund hängt. (Es gibt drei Stück, die je nach Tagesaufgaben unter den Teammitgliedern verteilt werden.)
Emma beruhigt mich gleich. Das wäre jedem von ihnen schon einmal passiert. Allerdings muss ich den Vorfall im Futtertagebuch vermerken, damit begründet ist, warum die Tiere heute kaum sichtbar sein werden, nicht hungrig und etwas desorientiert sind. Tatsächlich fehlt am Abend, als ich die Schälchen einsammeln will, kaum etwas von dem Rinderherzragout und Carmel schlägt vor, sie bis morgen einfach in den Käfigen zu lassen.
Für ein paar weitere Tage bleibt der Rhythmus unserer Nachthauskiwis leicht gestört. Sie schlafen während ihrer künstlichen Nacht häufig und fressen unregelmäßiger als sonst. Ich habe ein schlechtes Gewissen und bin von dem Zeitpunkt an ganz besonders aufmerksam. Glücklicherweise passiert mir ein solcher Patzer nicht noch einmal.

Auch meine vierwöchige Verlängerung ist schnell vergangen. Ehe ich mich versehe, muss ich schon den Bus nach Taranaki, New Plymouth buchen und kurz darauf meine Sachen zusammensuchen. Einen Teil davon, wie zum Beispiel das Zelt, Luftmatratze und meine kurze Hose bleiben bei Carmel. Die werde ich weiter im Süden bestimmt nicht brauchen. Außerdem stellen sie das Versprechen dar, im Oktober noch einmal zurückzukommen. Claire hat mir nämlich angeboten zu helfen, wenn es mit den Eiern und Küken so richtig losgegangen ist.
An meinem letzten Abend laden mich einige der Kiwi-Girls, Emma, Carmel und Kym zum Abschiedsessen in ein Indisches Restaurant ein. Emma überreicht mir sogar ein Abschiedsgeschenk, bestehend aus einem Paar fingerloser Handschuhe und einem Stirnband – beides aus Opossum-Merino-Wollgemisch. Ich setzte sie sofort ein, denn es ist kalt, als wir das Restaurant verlassen. Sie sind wunderbar flauschig und warm.
Die größte Überraschung sollte mir aber noch bevorstehen. Emma führt uns in den Wald, um uns Glühwürmchen zu zeigen. Wir laufen mit eingeschalteten Stirnlampen etwa 10 Minuten einen kleinen Weg entlang und biegen dann in einen Seitenpfad ab. Überall stehen Pflanzen dicht an dicht und hier führt der Pfad zwischen Lehmwänden hindurch. In diesen sitzen kleine Lichtpunkte dicht an dicht. Wie weit entfernte Sterne sehen sie aus, manche bläulich, manche grünlich gefärbt. Leider sind sie durch den trockenen Sommer nicht ganz so zahlreich wie sonst, aber für mich, die ich zum ersten Mal Glühwürmchen sehe, ist es schlichtweg atemberaubend. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie es nach einem feuchten Sommer aussehen mag.

Am nächsten Morgen bringt mich Carmel gefolgt von ihrem Enkel Kahu, der mit ihrer Tochter gestern für ein paar Tage zu Besuch gekommen ist, zum Busbahnhof. Es ist derselbe, an dem ich sechs Wochen zuvor aus Opotiki angekommen bin. Mir wird noch zugewinkt, bis mein Bus um eine Ecke biegt und aus ihrem Sichtfeld entschwindet. Die Zeit in Rainbow Springs war fantastisch und ich werde die netten Menschen und die Kiwis dort vermissen, aber ich freue mich ebenso auf meine nächste Etappe. Ich bin eben doch ein Zugvogel, der am liebsten immer weiterreist.

See ya
Kiri

Samstag, 10. August 2013

Packe, packe Kiwis

Am Donnerstagmorgen, den 11. April nehmen Sintija und ich den Bus nach Opotiki. Die Busfahrt ist diesmal sehr kurzweilig, weil wir uns gut unterhalten. Die meiste Zeit fahren wir entlang der Nordostküste und vom Meer kann ich sowieso nicht genug bekommen. In Rotorua müssen wir den Bus wechseln, da wir aber fast zwei Stunden Zeit haben, erkunden wir das Zentrum und laufen einen hübschen Pfad am See entlang, an dem die Stadt liegt.
Diese Gegend ist tektonisch sehr aktiv und daher bekannt für seine heißen Quellen, blubbernde Schlammseen, Vulkane und Geysire. Wai-O-Tapu ist eine Art Park, in dem man all dies zu sehen bekommt. Ziemlich touristisch ausgelegt, aber ich hatte bereits in Deutschland davon gehört und wollte es unbedingt sehen. Deshalb beschließen wir, dass wir in ein paar Wochen an einem freien Tag hierher zurückkommen und den Park besuchen werden.
An unserer Haltestelle angekommen, werden wir schon von Jan erwartet, die uns zu unserer Unterkunft bringt. Sie liegt nur etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt, was bedeutet, das Sintija und ich sogar entlang der Hauptstraße dorthin laufen können, um einzukaufen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn man, wie wir, kein Auto besitzt und unabhängig sein will.

Die Einfahrt zum Hostel ist so gut durch Hecken getarnt, dass man einfach vorbeifahren würde, wenn man nicht wüsste, dass sie da ist. Wir können uns die Stelle nur merken, weil ein neongelbes „Achtung, Kühe“-Schild kurz davor steht. Als wir in den kleinen Kiesweg einbiegen, bleibt uns der Atem stehen. Das ist definitiv kein Hostel. Es ist eine Villa!


Dieses wunderschöne weißgetünchte, zweistöckige Haus steht in der hinteren Ecke eines riesigen, gepflegten Gartens, der es mit denen in England aufnehmen könnte. Hier würden wir für 100 Dollar pro Woche leben? (Zum Vergleich: In Te Puke haben wir für ein Mehrbettzimmer in der schäbigen Backpackerabsteige 120 Dollar pro Woche bezahlt)
Wir können unser Glück kaum fassen…

Unsere neue Unterkunft wird von dem netten Ehepaar John und Sharon geführt, die sie gerade erst geöffnet haben und mit der Zeit zu einem Bed and Brakefast Hotel weiterentwickeln wollen. Zurzeit sind sie noch in der Experimentierphase, wie viele Gäste sie aufnehmen können. Internet gibt es bisher keines, wird aber in den nächsten Tagen von ihrem Sohn installiert und kostet uns nur 5 Dollar Aufschlag.
Ein junges deutsches Pärchen – Max und Kirsten - hat sich bereits dort eingemietet und am selben Abend, an dem wir ankommen, treffen noch zwei weitere zukünftige Mitbewohner ein: Sam aus Schottland und Nico aus Deutschland. Nach ein paar Wochen vergrößert sich unsere WG ein weiteres Mal um Shenna aus China, Andi aus England, Sol aus Argentinien und Sarah aus Kanada.

Am folgenden Tag haben wir unsere Einweisung im Packhaus. Jan holt uns mit dem Auto ab, aber als wir nach nur fünf Minuten Fahrt in die Einfahrt einbiegen, ist für uns klar, dass wir in Zukunft einfach herlaufen werden.


Die Schulung ist nicht sehr lehrreich. Wir bekommen lediglich ein paar Kiwis mit verschiedenen Makeln gezeigt, (blamish = Schönheitsfehler, haywood = Trockenstreifen , soft ones = zu weiche, squary = zu eckige, small ones = zu kleine, mouldy = schimmlige, black ones = schwarze Stellen, etc.) aber bis wir den Dreh heraushaben, was in die 1., 2. und in den Müll gehört, dauert es fast eine Woche und selbst dann sind wir nicht die einzigen, die noch Fehler machen. Wenn zum Beispiel ein harmloser Makel, wie trockene Stellen oder Streifen, nicht größer als zwei Zentimeter ist, ist es durchaus noch gut genug für die 1. Klasse. Wie sich herausstellt ist das größere Problem, neben unserer Unfähigkeit, eher, dass wir verschiedene Supervisor (Abteilungsleiter) haben, die ebenfalls unterschiedlicher Meinung sind, was noch gut und was Müll ist.


Am Samstag fangen wir mit der Arbeit an. Es gibt einige Deutsche Backpacker hier. Die Jungs helfen meistens beim Auftürmen der gefüllten Kiwiboxen (stacking) oder dem Falten derselben. Die Kiwisortierer (grader) sind ausnahmslos Frauen. Dann gibt es noch die „Vorbereiter“, denen die Verpacker - die die Boxen ordentlich füllen – die Plastikeinlagen und Folien zum Einschlagen der Früchte in den Kisten verdanken.
Neben den Backpackern arbeiten hier viele Einheimische, darunter viele Maori, aber insgesamt sind wir nur ungefähr 70 Angestellte im ganzen Packhaus. Dass es so übersichtlich und klein ist, ist sehr ungewöhnlich bietet aber den Vorteil von familiärer, freundlicher und verständnisvoller Atmosphäre. Nach wenigen Wochen kennt jeder jeden.
Die Sortierer sind gleich hinter der Bürstenmaschine platziert, vor welcher die Kiwis aus den Holzkisten gekippt und etwas gesäubert werden, bevor sie ein Fließband auf die Rollenbänder vor unsere Hände befördert. Wie der Name schon sagt, bestehen diese aus vielen weißen rotierenden Rollen, die die Kiwis dazu bringen, sich um ihre eigene Achse zu drehen, damit man sie von allen Seiten betrachten kann, ohne sie einzeln in die Hand nehmen zu müssen. Das Tempo kommt mir Anfangs noch sehr schnell vor, um all die Früchte auf einmal im Auge zu behalten, aber mit wachsender Übung wird es besser.

Leider hat eine der neu ernannten Aufseherinnen, Terry, noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Untergeordneten und lässt es sich zur Gewohnheit werden, neben uns zu stehen und uns jede mangelhafte Kiwi mit strengem Blick unter die Nase zu halten, die wir übersehen haben. Das ist nicht nur irritierend (weil man den Blick vom Band abwenden und die Kiwi betrachten muss) sondern auch unfair, da ich am Anfang des Bandes stehe und mir somit die gesamte unsortierte Masse vor die Nase purzelt, die ich erst einmal von Blättern und Zweigen befreien, gerade ausrichten, die absolut unzumutbaren und letztendlich auch noch die zweitklassigen Früchte aussortieren muss. Es ist doch klar, dass ich keine Zeit und nicht genug Hände habe, um jede Frucht zu erwischen.

An jedem Band stehen ohnehin immer zwei Sortiererinnen – eine auf jeder Seite und leicht versetzt – damit die hintere sich allein auf die Details konzentrieren kann. Meine Partnerin ist eine etwa 60-jährige Maori und heißt Kura, was in ihrer Muttersprache „Schule“ bedeutet. John und Sharon haben ein Maori-Wörterbuch, in dem ich – neugierig gemacht durch viele Einheimische, die meinten mein Name klinge vertraut - auch das Wort „kira“ gefunden habe und laut dem ich anscheinend nach der Hauptschwungfeder eines Vogelflügels benannt wurde.
Schnell werden Kura und ich ein eingespieltes Team und amüsieren uns prächtig über die stupide Arbeit.
Es gibt insgesamt sieben dieser Sortierbänder, die alle parallel stehen. Am Letzten kommen zusätzlich noch die zurückgeschickten Früchte hinzu, die den Verpackern nicht ganz koscher vorkommen und einen zweiten Blick benötigen.

Als ich am Abend dieses ersten Arbeitstages die Augen schließe, um zu schlafen, sehe ich noch für eine ganze Weile Kiwis hinter meinen Lidern rollen.

Wie Sintija und ich bereits in Te Puke erfahren haben, hat die Kiwisaison dieses Jahr einige Probleme, um richtig anzulaufen. Vermutlich liegt es an dem sehr trockenen, heißen Sommer, unter dem Neuseeland gelitten hat und den ich, aufgrund meiner Abwesenheit nicht mitbekommen habe. Es hat nicht genug geregnet und noch immer sind die Nächte einfach nicht frostig genug, um den Zuckergehalt der Früchte zu steigern.
Daher arbeiten wir in der ersten Woche nur vier, in den darauf folgenden sogar nur zwei Tage am Stück.

Mir ist das ganz recht und ich genieße die Tatsache einen unterschriebenen Vertrag und dennoch so viel Freizeit in einem warmen Sonnenmonat zu haben. Ich wollte hauptsächlich eine Tätigkeit als Pflücker oder im Packhaus, weil das unter „Erntetätigkeit“ (horticulture) fällt und ich drei Monate – volle 90 Tage in diesem Bereich gearbeitet haben muss, um mein working holiday visa um ein Vierteljahr verlängern zu können. Fast einen Monat der Forderung habe ich bereits durch die Arbeit in Warkworth abgedeckt.
Eine bewilligte Verlängerung würde bedeuten, dass ich bis zum 4. Dezember in Neuseeland bleiben und somit den Frühling und Frühsommer hier genießen könnte – und damit auch eine Chance hätte, im Kakapo-Schutzprojekt mithelfen zu können, das erst mit Beginn der Brutsaison im November startet. Natürlich habe ich keine Garantie, dass dieses Projekt tatsächlich zustande kommt - mal davon abgesehen, dass ich mich für einen der raren Plätze erst qualifizieren müsste – denn diese Vögel brüten nur etwa alle fünf Jahre, abhängig von der Häufigkeit der Rimu-Beere, mit denen die Küken gefüttert werden.
Da der letzte Sommer jedoch so heiß und trocken war, gab es kaum welche davon, weshalb es auch keinen Kakaponachwuchs gab. Ich hatte mich bereits im September beworben, bevor ich zurück nach Deutschland musste und zuhause die ganze Zeit gehofft, dass ich nicht gerade jetzt eine Zusage erhalten würde – das wäre wirklich eine Ironie des Schicksals gewesen. Wie jedoch bereits erwähnt, gab es im Sommer 2012 keine Vogelbabys, jedenfalls nicht genug, um Volontäre im Rahmen eines Projektes zu finden.


Also machen Sintija und ich das Beste aus unseren Teilurlaub, denn schon früh genug würde unsere Situation ins Gegenteil umschlagen – mit einer Menge Nachtschichten und sieben-Tage-Wochen, die uns nur so um einen freien Tag betteln lassen würden. Das wurde uns jedenfalls so prophezeit...

Fast jeden Tag laufen wir ins Dorf, auch wenn wir nur einen Joghurt oder frisches Obst brauchen, finden nach kurzer Zeit den schnellsten Weg zum Strand und genießen es, oft stundenlang im Sand in der Sonne zu liegen, dort zu lesen oder - was ausschließlich mich betrifft - ein Bad im noch immer recht warmen Meer zu nehmen. Das Schönste daran ist, dass er fast immer menschenleer ist. Wir haben den Strand ganz für uns alleine. Warum niemand von den Einwohnern ihn nutzt ist mir ein Rätsel, liegt aber vermutlich daran, dass er immer da und somit selbstverständlich ist. Von hier aus kann man manchmal „White Island“ bestaunen, eine aktive Vulkaninsel, von der fast immer dicker weißer Rauch aufsteigt.

Haben wir mal keine Lust auf die 1,5 Stunden Fußmarsch dorthin oder ist das Wetter ausnahmsweise zu schlecht, ist auch unsere Villenunterkunft ein herrlicher Ort zum Entspannen. Besonders mit dem schattigen, parkartigen Garten, in dem verschiedene Obstbäume - Persimmon, Feige, Fijoa - mit reifen Früchten stehen.
Manchmal entzünden wir alle zusammen ein Lagerfeuer vorm Haus, rösten Marshmallows, trinken Bier und unterhalten uns bis spät in die Nacht. Oft setzt sich auch John zu uns und gibt eine Runde aus.

Während dieser „Schonzeit“ lerne ich auch Keith, eine Lastwagenfahrer kennen, der mich einmal auf halben Weg vom Dorf zur Villa mitnimmt. Ich bin eigentlich nur eingestiegen, weil ich schon immer mal in einem Lastwagen als Anhalter mitfahren wollte, auch wenn er von selbst gehalten hat und mein ablehnendes „nein, danke, ich laufe gerne“ als Beleidigung angesehen hätte.
Es stellt sich heraus, dass auch er ein Maori ist und beantwortet mir bereitwillig alle meine Fragen, die sich in meiner kurzen Zeit in diesem Land angesammelt haben. Viel zu bald erreichen wir Johns Haus und da er merkt, dass ich mich noch gerne weiter unterhalten würde, bietet er mich an, mir seinen „Arbeitsplatz“ zu zeigen. Vielmehr ist es ein Steinbruch, von dem aus er Steine, Kies und Dreck irgendwo an die Küste transportiert, wo daraus Zement hergestellt wird.
Er bietet mir an, dass er mich nach seiner Arbeit abholen und mir ein bisschen die Gegend zeigen und mich in die Kultur und die Geschichte der Maori einweisen könnte. Natürlich sage ich ja, was für eine Gelegenheit! Nett und harmlos scheint er auch zu sein und ich tue gut daran, ihm zu vertrauen, denn er zeigt und erklärt mir in den nächsten drei Abenden sehr viel. Dinge, die ich wohl in keinem meiner Reiseführer hätte nachlesen oder lernen können.
Wie zum Beispiel die Besichtigung von Taketakerau – dem uralten Begräbnisbaum des lokalen Maoristammes, der durch einen Blitzschlag entweiht wurde; die Legende wie der Ort seinen Namen den Delfinen Opo und Tiki verdankt, die den ersten Stammeshäuptling „Te Arawa“ hierher brachten; die wahre Geschichte von den sieben Kanus (wakas), in denen die sieben ersten Stämme und deren Häuptlinge ankamen – insbesondere dem Kanu Mataatua, in dem Te Arawa und sein Whakatohea-Stamm in Opotiki landete; die Geschichte von den letzten Stammeskriegen, in denen sich einige mit den weißen Siedlern verbündeten und viele Maori entlang der Ostküste töteten; die Geschichte vom heiligen Berg Makio, der über Opotiki wacht und auf dessen Spitze sich die Krieger auf die Kämpfe vorzubereiten pflegten; oder die etwas bekanntere Geschichte des englischen Pfarrers, der eine Maorifrau heiratete und somit den tödlichen Zorn ihres Stammes auf sich lenkte – und dessen junge Gebeine noch immer unter der kleinen Kirche begraben liegen…
Das und vieles mehr lerne ich über Neuseelands erste Völker, als ich die Abende im Gespräch mit Keith verbringe. Leider habe ich keine Chance mich dafür zu revanchieren, da es die letzten freien Tage sind, die ich in Opotiki haben würde.

Anfang der zweiten Maiwoche geht es dann nämlich endlich so richtig mit der Arbeit los und ich und Sintija haben Probleme, die Zeit für unsere wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe zu finden. Das geht sogar so weit, dass wir tatsächlich die Angebote annehmen, wenn uns jemand fragt, ob wir mit im Auto ins Dorf fahren wollen, da es nach Arbeitsende bereits dunkel ist und wir uns nicht mehr trauen, entlang der schnell befahrenen Hauptstraße zu laufen.

Nach etwa sieben Tagen Arbeit am Stück leidet jeder unter dem Kiwistaub, der sich überall, besonders aber auf den vertikalen Flächen hinter der Bürstenmaschine, zentimeterdick niederlässt und hinterhältig in die Atemwege eindringt. Putzt man sich in der Pause die Nase, ist das Taschentuch hinterher braunschwarz gefärbt und Sam bekommt sogar regelmäßig Nasenbluten davon. Einweg-Atemmasken werden angeboten, die vor allem die Frauen dankbar annehmen. Doch selbst diese helfen nur bedingt, denn man hat das Gefühl, weniger Sauerstoff zu inhalieren und ich muss sie von Zeit zu Zeit beiseite schieben, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Bald arbeitet sich der Staub erst in die Nebenhöhlen, dann sogar in die Lunge vor und entwickelt sich zu einem scheußlichen Reizhusten, der nachts besonders intensiv wird. Bald greifen selbst die hartgesottenen Männer zu den Masken und wenn ich mich nun in der Halle umschaue, bekomme ich den Eindruck in der Seuchenstation eines Krankenhauses zu arbeiten.
So ganz falsch ist das nicht. Bereits in Te Puke haben wir von einem Erreger gehört, der die Kiwiplantagen befällt. Betroffen sind vor allem die teuren Goldkiwis, weshalb auch der ganze Aufwand mit dem Desinfizieren der Stiefel betrieben wurde. Dieser Erreger – PSE genannt – lässt die Blätter absterben und tötet langsam die gesamte Pflanze. Hunderte von Plantagenbesitzern sind aufgrund dessen in den letzten zwei Jahren, seit der Erreger das erste Mal auftrat, bankrott gegangen. Diese verzweifelte Lage hat einige sogar in den Suizid getrieben.
Als ich etwas skeptisch frage, ob das auch für Menschen und Tiere schädlich sei, bekomme ich nur die Antwort, dass man das noch nicht wüsste, da die PSE-Forschung noch nicht besonders weit fortgeschritten sei. Seitdem nehme ich die Maske, auch wenn sie nur geringen Schutz bietet, nicht mehr ab.


Die meiste Zeit ist die Arbeit monoton und ich habe schnell gelernt, in diesen zehn Stunden einfach mein Gehirn auszuschalten und leise vor mich hinzusingen. Das Radio im Büro ist zwar auf volle Pulle gedreht, aber gegen die Geräuschkulisse der aus den Kisten kollernden Kiwis, gebrüllter Konversationen, der Bürstenmaschine und sämtlichen Förderbänder kommt es in unserer Ecke des Packhauses einfach nicht an. Laut der Packer, die in vorderster Reihe stehen, verpassen wir aber ohnehin nichts, da sich die Musik ständig wiederholt und die Werbung nervtötend ist.
Hin und wieder gibt es jedoch auch einen Lacher. Zum Beispiel wenn von hinten gebrüllt wird: „Soft ones coming through!“ und man in den nächsten Minuten Ausschau nach zerquetschten oder matschigen Kiwis halten und diese dann so schnell wie möglich vom Förderband kratzen und alle von Fruchtsaft durchnässten ebenfalls in den Mülleimer befördern muss.
Oder wenn selbige Mülleimer sporadisch von den Aufsehern nach erst- oder zweitklassigen Kiwis durchsucht wird und ich das widersprüchliche Lob „Ich mag deinen Abfall, er ist sehr gut – alles nur schlechte Kiwis“ bekomme.
Oder wenn wir nach ein paar Tagen die ganze Ladung zweitklassiger Kiwis nachsortieren und den übersehenen Kiwimüll herausfischen müssen und Kura trocken kommentiert: „Für mich sieht das alles irgendwie nach Müll aus.“

Diese „schlechten“ Kiwis, die außer äußerlichen Makeln innerlich komplett in Ordnung sind (bis auf die zerquetschten, matschigen und verschimmelten vielleicht) werden übrigens in großen Holzkisten gesammelt und hin und wieder in den Hof gestellt. Dann dürfen sich alle Mitarbeiter daraus bedienen und umsonst mitnehmen, soviel sie wollen. Besonders der Goldkiwimüll ist nach nur wenigen Stunden in großen Plastiktüten in den Taschen der Sortierer, Packer oder Stapler verschwunden. Aber auch zwischendurch darf man einzelne, zu weiche Früchte beiseite legen und in der Pause essen, nachdem sie von den Aufsehern als minderwertig abgesegnet wurden. Da alle Backpacker von Natur aus nicht sehr wohlhabend sind, besteht unsere Diät von nun an hauptsächlich aus, von der Oberschicht (zu der wir ironischerweise selbst gehören) verschmähten Kiwis, was die gesündeste Ernährung ist, die ich seit meiner Ankunft in Neuseeland habe.


Fast bis zum Ende unserer Zeit in Riverlock werden wir noch jeden Tag mindestens einmal auf unserem morgendlichen Spaziergang zum Packhaus von einem der vielen vorbeifahrenden Mitarbeiter gefragt, ob er uns mitnehmen soll. Keiner kann so recht glauben, dass wir aus reinem Vergnügen laufen, auch wenn sich uns inzwischen sogar Sarah, Sol und Andi angeschlossen haben.
Es ist die einzige Möglichkeit, ein bisschen Bewegung an der  frischen Luft und in der Sonne zu bekommen, die es absolut wert ist, eine halbe Stunde früher aufzustehen.

An regenreichen Tagen sind wir allerdings froh, dass Nico ein eigenes Fahrzeug hat, doch er ist eine solche Schlafmütze, das wir jedes Mal Sorge haben, ob wir es rechtzeitig vor Arbeitsbeginn zum Packhaus schaffen…


























Einer der aufregendsten Tage ist der, an dem ich Blutalarm auslösen muss – eine Katastrophe in einem Lebensmittelbetrieb. Gefangen in meiner Monotonie, nur auf die bekannten Makel konzentriert und auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet, kostet es mich einige Sekunden, um die ungewöhnlichen roten Flecken auf den Früchten als „nicht gut“ einzuordnen. Dann aber alarmiere ich augenblicklich Kura und Terry, meine Lieblingsaufseherin, die seit kurzem zu einem unerträglichen Kontrollfreak mutiert ist und versuche, halb auf dem Förderband liegend, alle rotgesprenkelten Kiwis zu erwischen. Auch andere Sortiererinnen haben inzwischen welche entdeckt. Die Farbe ist so intensiv, dass mein Magen rebelliert und ich versuche mir lieber nicht vorzustellen, wie oder wem das passiert sein mag. Definitiv nicht hier im Packhaus, denn vor uns sind nur die Kistenauskipper und von denen hatte keiner einen Unfall. (Verwundet man sich bei der Arbeit an etwas, muss man dies sofort melden, wird zum Büro geschickt und bekommt dort ein unpraktisches, knallblaues Plastikpflaster, unter dem man schwitzt und das dem vielen Händewaschen und Desinfizieren, das zwischen Toilette, Kaffe- und Mittagspausen erforderlich ist, nicht einmal für einen halben Tag Stand hält.)
Als wir unser Sandwich essen, diskutieren wir, was passiert sein mag, bis uns allen fast der Appetit vergeht.
Ich frage später Jan danach, aber sie hat überhaupt nichts davon mitbekommen, was ich sehr merkwürdig finde. Anscheinend hat Terry es nicht ordnungsgemäß weitergegeben, weil sich in der Zwischenzeit herausgestellt hat, dass es sich nur um Beerensaft handelt. Sie bekommt trotzdem einen Rüffel, was unser schwieriges Verhältnis nicht gerade verbessert.

In der letzten Maiwoche ertrage ich die Nörgeleien von Terry einfach nicht mehr und bitte Jan um Versetzung in einen anderen Bereich des Packhauses. Hin und wieder musste jeder von uns mal woanders aushelfen und das Vorbereiten der Boxen, Umpacken oder Verpacken ist vielleicht ab und zu etwas stressiger, aber ansonsten nicht besser oder schlechter als das Aussortieren. Zum Glück werde ich nur zwei Tage später zum Packer ernannt und von einer der Aufseherinnen dort – einer massigen, immer gutgelaunten, laut lachenden Maorifrau – mit einem rauen Schulterschlag und einem fröhlichen: „welcome on the cool side of Riverlock“ begrüßt.


Von da an wendet sich meine Lage schlagartig zum Besseren, auch wenn ich Kura, Sintija und die Sortiererwitze vermisse. Das Packen fordert weitaus mehr Aufmerksamkeit und Schnelligkeit als das Aussortieren. Manchmal füllen sich die Boxen in einem solchen Tempo – besonders bei den zweitklassigen Familienkartons – dass ich nicht einmal Zeit habe, die Klarsichtfolie über den Kiwis zusammenzufalten und den Deckel zu schließen. In diesen Stoßzeiten arbeiten wir aber glücklicherweise meistens zu zweit in einer Reihe.


Es gibt zwei verschiedene Arten von Boxen. Die Einlagigen (single layer), die für Kiwis erster Klasse gedacht sind und bei denen die regelmäßigen kiwiförmigen Dellen in den weißen Plastikeinlagen an jedem Packband eine andere Größe haben – bis zu fünf verschiedene – von Jumbo bis Normal. (Jumbokiwis sind selten und teuer und fallen so langsam in ihre Kisten, das man jeder davon einen Namen geben könnte) Die kleinen Früchte sind dagegen zweitklassig und werden, wie alle anderen zweitklassigen Kiwis in den großen Familienboxen gesammelt, die über 100 Stück enthalten können. Es gibt noch Minikleine, aber die sind wiederum Abfall und landen in den Müllboxen am Ende.
Ich frage, wie die Maschine wissen kann, bei welcher Reihe sie die Kiwis auswerfen muss, wenn jede Reihe eine andere Größe verpackt. Das ist einfach. Die Früchte liegen einzeln auf bunten Plastikschalen und fahren an jeder Reihe vorbei. Diese Schalen sind auf Gewicht programmiert und die Maschine lässt sie somit in den Trichter der Reihe fallen, die für dieses Gewicht bestimmt wurde. Bei den Reihen, die die Jumbofrüchte verpackt, kommt es daher auch oft vor, das zwei Minifrüchte aus der Öffnung purzeln – was passiert, wenn versehentlich mehr als eine Kiwi auf der Schale liegen.

Als sich abzuzeichnen beginnt, dass nicht mehr viele Kiwis in den Plantagen von Riverlock hängen, fangen wir alle langsam an, uns Gedanken zu machen, was wir nach Ende der Packsaison machen wollen. Max, Kerstin und Sam wechseln zu einem der größeren Packhäuser, die mit mehr Plantagenbesitzern Verträge haben, Nico, der genug Geld hat, wird seine restlichen Wochen in Neuseeland ruhig ausklingen lassen, Sarah hat einen Roadtrip um die Südinsel geplant, Sol fliegt zurück nach Argentinien, Shenna ist längst wieder in China und Sintija und Andi sind überraschenderweise zu einem Pärchen geworden und wollen erstmal ein paar Wochen Urlaub zusammen machen. Und ich? Ich hatte eigentlich geplant mit Sintija zurück nach Rotorua zu fahren, da sich das nun aber schwierig gestaltet und ich nicht das fünfte Rad am Wagen sein will, plane ich wieder für mich alleine – was ich, um ehrlich zu sein, genieße.
Ich möchte irgendwo als Volontär arbeiten und wieso eigentlich nicht in Rotorua? Ich habe einige meiner Packhauskollegen nach Möglichkeiten dort gefragt und mir wurde dafür ‚Wingspan’ (eine Adlerwarte) oder ‚Rainbow Springs’ (ein Kiwi-Erlebnispark) vorgeschlagen. Da Wingspan einen langen Bewerbungsbogen erfordert, versuche ich mein Glück erstmal beim Kiwipark. Über diese Vögel wollte ich ohnehin mehr lernen.
Ich habe Erfolg. Es dauert ein paar Tage, weil das Kiwi Encounter Team momentan sehr beschäftigt ist, aber ich bekomme die Zusage, am 17. Juni dort anfangen zu können und mindestens zwei Wochen aushelfen zu dürfen.

Über Couchsurfing finde ich auch einen Schlafplatz für die ersten paar Nächte (wenn nicht gar länger, wenn wir uns gut verstehen) und so steht meinem nächsten Abenteuer nichts mehr im Wege.

Ich bringe es glücklicherweise noch zustande ein Abschiedsessen zusammenzuwürfeln, bevor ich abreise und es ist einer der seltenen Abende, and dem wirklich alle gemeinsam am Tisch sitzen. Wir trinken Bier und Wein, essen und lassen die vergangenen Wochen Revue passieren, bevor wir uns am nächsten Morgen in alle vier Winde zerstreuen werden…


Auch wenn ich vorerst keine Kiwis mehr sehen kann und das alles nur wegen der Visaverlängerung angefangen habe, gehört die Zeit, die ich hier verbracht habe, bisher zu meinen schönsten Erlebnissen in Neuseeland!