Freitag, 2. August 2013

Pflücken und pflücken lassen

In Te Puke angekommen, warte ich an der Busstation auf meinen neuen Arbeitgeber, der netterweise angeboten hat, mich abzuholen. Doch niemand kommt. Im Regen mache ich mich auf den Weg zur Hauptstrasse, um mich zum Hostel durchzufragen. In meinem blinden Vertrauen habe mir den Namen leider nicht aufgeschrieben, aber anscheinend gibt es ohnehin nur zwei Backpacker-Unterkünfte dieser Art im Ort. Beide entlang der Hauptstraße, das eine zwei, das andere fünf Kilometer entfernt. Ich versuche mich wieder einmal als Anhalter und muss nicht lange warten, bis ein Kleinlaster links stoppt. Dennoch bin ich bereits klatschnass,
als ich einsteige. Unkomfortabel quetsche ich mich zu diversen elektronischen Geräten und Werkzeugkästen. Mein Fahrer ist offensichtlich Mechaniker.
Er setzt mich bei der weiter entfernten Herberge ab und ich erkundige mich nach „Tracy“, meinem E-Mail-Kontakt. Der Name sagt keinem etwas. Als selbst der Manager erscheint und keine Ahnung hat, von wem ich spreche, fange ich bereits an zu vermuten, dass ich am falschen Ort gelandet bin und äußere meine Zweifel. Er fragt mich, was ich hier in Te Puke eigentlich will. Als ich motiviert von dem kürzlich errungenen Job als Kiwipflücker erzähle, brechen alle in schallendes Gelächter aus.
Was bitte ist daran so komisch? Der Manager erklärt darauf grinsend und gnadenlos ehrlich: „Da hat dich wohl jemand auf den Arm genommen. Die Backpacker in meinem Hostel warten alle noch immer auf den Start der Saison, weil die Kiwis noch nicht reif sind. Die Nächte waren dafür noch nicht frostig genug und der Zuckergehalt der Früchte ist noch zu niedrig.“
Ich ahnte nicht, dass mir dieses Wort „sugar level“ bald zum Hals heraushängen würde.

Recht ernüchtert höre ich mir diese neuen Nachrichten an. Immerhin war ich gerade ein paar hundert Kilometer mit dem Bus gefahren, um nun durchnässt und belogen im falschen Hostel zu stehen.
Als er meinen enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkt, tut ihm das Gesagte wohl leid. Jedenfalls fügt er daraufhin hinzu, dass er die besagte Unterkunft und seine merkwürdige Art der Jobvermittlung kennt, aber dennoch hin und wieder ein paar seiner Backpacker dorthin überwechseln, da es ihnen dort offensichtlich besser gefällt. (Jedenfalls darf man dort Alkohol trinken, was bei ihm verboten ist – nicht gerade eines meiner wichtigsten Auswahlkriteria auf der Suche nach einer Unterkunft.) Er könne mich dort absetzen und würde warten, bis ich herausgefunden hätte, ob es dort tatsächlich eine „Tracy“ gäbe. Wenn nicht, würde er mich wieder mitnehmen und ich könnte die Nacht in seiner Herberge verbringen.
Das hörte sich nach einem vernünftigen Plan an und so hatte ich nichts dagegen einzuwenden.
Wie sich herausstellt, arbeitet mein gesuchter Kontakt tatsächlich dort. Ich bedanke mich bei dem netten Manager, aber bevor er davonbraust, gibt er mir noch seine Telefonnummer mit der Aufforderung, ihn bei Problemen unbedingt zu kontaktieren und warnt mich davor, meine Visakarten-Informationen weiterzugeben. Diese Warnung kommt etwas zu spät, da ich das Formular dafür ja schon übereifrig ausgefüllt und per E-Mail an das Hostel geschickt hatte.

Tracy macht auf mich einen sehr netten und ehrlichen Eindruck und mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie definitiv nicht der Typ ist, der mittellose Backpacker gnadenlos ausnimmt. Ich finde heraus, dass tatsächlich die meisten der jungen Leute hier als Kiwipflücker arbeiten. Tracy hat Kontakt mit vielen der Plantagenbesitzer, den so genannten „Contractors“. Diese melden sich dann bei den Pflückern, die bei ihnen unter Vertrag stehen, sobald neue Früchte reif sind und so kommt die Arbeit zu Stande. Wieviel man verdient, hängt davon ab, wie schnell man erntet, da pro Kiste („bin“) bezahlt wird. Denn je mehr Kisten man füllt, desto mehr Geld bekommt man logischerweise. Mit wachsender Erfahrung kann man sein individuelles Tempo steigern. Gepflückt wird immer in einem Team von 10 – 12 Personen und das einzige Problem für mich besteht nun darin, ein eigenes Team zu finden. Die bereits bestehenden brauchen keinen „Neuling“, der das Gruppentempo senken würde. (Zu Recht würden sie das Gefühl haben, für mich mitzupflücken und natürlich wäre es unfair, wenn ich am Ende des Tages das Gleiche ausgezahlt bekäme, wie die erfahrenen Pflücker.) Also muss ich warten, bis sich eine komplett neue Gruppe zusammenfindet.
Es gibt jedoch auch einen Haken: Sobald man über die Kontakte des Hostels einen Contractor findet und einen Vertrag mit diesem unterzeichnet, verpflichtet man sich zugleich für die komplette Saison – will heißen, drei Monate! Will man nun jedoch früher mit dem Erntejob aufhören, hat man dennoch die Unterkunftskosten im Hostel für die kompletten drei Monate zu bezahlen und da man seine Visakarten-Informationen beim Einchecken angeben musste, wird das Geld gnadenlos von dort abgebucht, oder aber per Anwalt eingetrieben. Ich lerne einige Backpacker kennen, die unwissend in diese Falle getappt sind und nun hier aufgrund mangelnder finanzieller Mittel ausharren müssen, ob sie wollen oder nicht.

Da im Hostel momentan keine Betten mehr zur Verfügung stehen, verbringe ich die erste (recht kühle) Nacht im Zelt. Tracy verspricht mir, dass ich das erste bekomme, das frei wird. Tatsächlich checkt am nächsten Morgen jemand aus, und ich ziehe in ein 4-Personen-Zimmer um. Damit habe ich sogar ziemlichen Dusel gehabt, denn es gibt auch Zimmer für acht und mehr Personen. Da die meisten Backpacker hier unter zwanzig und jeden Abend auf Party aus sind, stelle ich mir das Zusammenwohnen in einer so großen Gruppe sehr anstrengend vor. Jeden Morgen findet man im Aufenthaltsraum massenhaft leere Bierflaschen und unter dem Tisch, an dem ich mein Frühstück zu mir nehmen versuche, hin und wieder sogar die ein oder andere unappetitlichere Hinterlassenschaft, die mich ahnen lässt, das dessen Verursacher die letzte Flasche besser nicht hätte leeren sollen.
Leider grenzt die Wand, an der mein Bett steht, an jene des Aufenthaltsraums, an die der Fernseher montiert ist und in der Regel bis in die frühen Morgenstunden hinein, auf volle Lautstärke gedreht, läuft.

In den folgenden Tagen treffen einige neue Leute ein, die Arbeit suchen, aber sobald sie herausfinden, dass sie nicht sofort anfangen können, fahren sie wieder ab. Hätten sie nur die Zeit, ein bis zwei Tage abzuwarten, dann wäre ein neues Team bereits zustande gekommen. Das Problem liegt nämlich darin, genug Backpacker mit Auto in der Gruppe zu haben, die die ganze Gesellschaft (natürlich gegen Benzinkostenbeteiligung) zu den Obstgärten kutschieren könnten.
Kurz darauf lerne ich Sintija kennen, ein nettes Mädchen aus Lettland, die auch auf der Suche nach einem Team ist. Wir freunden uns an und versuchen – nun zusammen – andere potentielle Pflücker zu motivieren, nicht gleich wieder abzufahren.
Nach einigem Hin und Her bildet sich langsam eine kleine Gruppe – darunter zwei Jungs aus Japan mit eigenem Transportmittel. Doch bis wir zur Tat schreiten können, ist es noch ein langer Weg. Der Zuckergehalt der Kiwis ist noch immer zu niedrig und es dauert ein paar Tage, bis wir eine positive Rückmeldung von unserem Contractor John erhalten.

Als es endlich so weit ist, schließen sich spontan ein paar Pflücker aus anderen Teams an, die an diesem Tag keine Betätigung haben und plötzlich stehen wir morgens zu zehnt vor dem Hostel und warten auf John. Er entpuppt sich als ein Inder, trägt dem Klischee gerecht werdend einen weißen Turban und erklärt uns in abgehakten Englisch die Regeln. Dann fahren wir gemeinsam zur Kiwiplantage, in der heute geerntet werden soll. Jeder bekommt einen schwarzen Pflückkorb mit weichen Trageriemen, den man sich vor den Bauch zu schnallen hat. Er hat keinen Boden, läuft dafür aber in einer Art breitem Stoffschlauch aus, dessen Ende man an die Vorderfront des Kobes einhaken kann und somit das Herausfallen der Früchte verhindert. Jeder muss seine Schuhsolen desinfizieren, um das Übertragen von Pflanzenkrankheiten zu verhindern und dann werden wir durch das Labyrinth der Plantagenreihen bis zu unserem heutigen Arbeitsplatz geführt. Jede Reihe ist ungefähr 300 Meter lang.


Die Kiwibäume sind nicht sehr hoch und erinnern sehr stark an Weinreben, denn sie schließen sich über den Köpfen der Pflücker zu einem niedrigen Baldachin zusammen, was einem das Gefühl gibt, in einer endlos langen schattigen Laube zu stehen. In jeder dieser Reihen können 3 – 4 Leute nebeneinander ernten, somit kann man mit einem zehnköpfigen Team drei Reihen auf einmal abdecken. Mindestens einer sollte dabei stets hinter den anderen herlaufen, um die Früchte, die übersehen wurden einzusammeln. Da es niedrigere und höhere Stellen gibt, an denen die Kiwis hängen, bietet es sich natürlich an, die kleineren Pflücker vorzuschicken, die alle tief hängenden abernten, während die großen an den Seiten arbeiten, wo die Früchte höher hängen. Idealerweise pflückt man vier Kiwis auf einmal – zwei in jeder Hand und behält ein stetiges Tempo bei. Eine der Regeln lautete jedoch, dass man 10 Minuten am Rand untätig stehen muss, wenn man mehr als 3 Kiwis pro Reihe fallen lässt. Gar nicht so einfach, wenn man von dem Contractor kontinuierlich mit „pick fast, pick fast“ angetrieben wird, der Korb immer schwerer wird, den Nacken nach unten zieht und man vom ständigen Strecken Krämpfe in den Schultern bekommt… Auch das Ausleeren muss gelernt sein. Hier muss man sich natürlich auch beeilen, aber darf zugleich die Kiwis nicht zerquetschen. Da die Ränder der Holzkisten für mich auf Brusthöhe lagen, musste ich den ohnehin schon schweren Korb jedes Mal hochstemmen, ihn auf der anderen Seite der Kiste langsam wieder absenken, den Schlauchverschluss öffnen und die Früchte durch diesen vorsichtig in die Kiste purzeln lassen. Hat man Zweige und Blätter in der Ladung, bekommt man einen missbilligenden Blick des Contractors, da besonders die kleinen Ästchen die Schalen durchstechen und die Kiwis beschädigen können.




An diesem ersten Tag arbeiten wir von 11:00 Uhr morgens bis 17:30 abends, beernten sechs Reihen und schaffen es, 63 Holzkisten zu füllen, was weit verbesserungsfähig ist.
Am folgenden Tag können wir nur drei Stunden arbeiten, schaffen aber immerhin 23 Holzkisten.


Danach sieht es erst einmal wieder flau mit Arbeit aus. Jedenfalls macht uns unser Contractor keine allzu großen Hoffnungen für die kommenden Tage und unser Team verweht wieder im Winde. Auch muss ich zugeben, dass mich diese Tätigkeit mehr als schlaucht. Trotz heißer Duschen lassen sich die Verspannungen nicht mildern und ich kann mir nicht vorstellen, das mehrere Tage am Stück durchzustehen. Geschweige denn drei Monate. Glücklicherweise habe ich noch keinen Vertrag unterzeichnet und somit die Möglichkeit, die Sache noch einmal zu überdenken.

Am Nachmittag kommt Sintija aufgeregt in mein Zimmer und teilt mir mit, dass sie einen Job in einem der Packhäuser bekommen hat, bei denen sie sich beworben hat. Es liegt in Opotiki, sie kann schon morgen anfangen und für eine Unterkunft ist auch gesorgt. Etwas ernüchtert, dass sie mich nun alleine hier in Te Puke sitzen lässt, bitte ich sie zu fragen, ob dort noch ein weiteres Paar Hände gebraucht wird. Packhausarbeit kommt mir, verglichen mit der Pflückerei im Augenblick wie der Himmel auf Erden vor.

Wieder einmal habe ich unverschämtes Glück. Keine zwei Stunden später meldet sich die Packhausleiterin Jan mit der Nachricht, dass soeben jemand abgesprungen sei und ich deren Platz haben könnte, sofern ich mich sofort entscheide und ebenfalls morgen früh kommen kann. Ohne lange zu überlegen sage ich zu. Adrenalin und Glücksgefühle durchströmen mich. Fort, fort aus Te Puke!
Ich muss lachen, als mir einfällt, dass „to puke“ auf Deutsch „sich übergeben“ bedeutet.
Doch wie soll ich das mit dem Auschecken noch rechtzeitig hinbekommen? Es ist bereits Abend und der Schalter wohl nicht mehr besetzt. Sogleich machen ich und Sintija uns auf den
Weg und erwischen Tracy gerade noch, als sie bereits dabei ist, die Tür zum Office abzuschließen. Erfreut ist sie natürlich nicht über unseren plötzlichen Sinneswandel, jedoch kann sie uns nichts vorschreiben, da wir ja noch keinen Vertrag unterschrieben haben. Nachdem auch das erledigt ist und wir alle Sachen abgegeben haben, buchen wir online unsere Busfahrkarten nach Opotiki. Mit wachsender Freude packe ich meine Sachen. Ich bin sehr aufgeregt, was mich dort erwarten wird.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir unsere verbliebenen drei Teammitglieder (die beiden Japaner Taku und Hiro, sowie Hunter, ein netter Junge aus Amerika) so im Stich lassen, also lade ich alle in den Irish Pub zu einem Abschiedsbier ein. Wir versprechen einander, uns auf der Südinsel in Queenstown wieder zu treffen, wo sich die Wege aller Backpacker aus Neuseeland früher oder später kreuzen.

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