Samstag, 10. August 2013

Packe, packe Kiwis

Am Donnerstagmorgen, den 11. April nehmen Sintija und ich den Bus nach Opotiki. Die Busfahrt ist diesmal sehr kurzweilig, weil wir uns gut unterhalten. Die meiste Zeit fahren wir entlang der Nordostküste und vom Meer kann ich sowieso nicht genug bekommen. In Rotorua müssen wir den Bus wechseln, da wir aber fast zwei Stunden Zeit haben, erkunden wir das Zentrum und laufen einen hübschen Pfad am See entlang, an dem die Stadt liegt.
Diese Gegend ist tektonisch sehr aktiv und daher bekannt für seine heißen Quellen, blubbernde Schlammseen, Vulkane und Geysire. Wai-O-Tapu ist eine Art Park, in dem man all dies zu sehen bekommt. Ziemlich touristisch ausgelegt, aber ich hatte bereits in Deutschland davon gehört und wollte es unbedingt sehen. Deshalb beschließen wir, dass wir in ein paar Wochen an einem freien Tag hierher zurückkommen und den Park besuchen werden.
An unserer Haltestelle angekommen, werden wir schon von Jan erwartet, die uns zu unserer Unterkunft bringt. Sie liegt nur etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt, was bedeutet, das Sintija und ich sogar entlang der Hauptstraße dorthin laufen können, um einzukaufen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn man, wie wir, kein Auto besitzt und unabhängig sein will.

Die Einfahrt zum Hostel ist so gut durch Hecken getarnt, dass man einfach vorbeifahren würde, wenn man nicht wüsste, dass sie da ist. Wir können uns die Stelle nur merken, weil ein neongelbes „Achtung, Kühe“-Schild kurz davor steht. Als wir in den kleinen Kiesweg einbiegen, bleibt uns der Atem stehen. Das ist definitiv kein Hostel. Es ist eine Villa!


Dieses wunderschöne weißgetünchte, zweistöckige Haus steht in der hinteren Ecke eines riesigen, gepflegten Gartens, der es mit denen in England aufnehmen könnte. Hier würden wir für 100 Dollar pro Woche leben? (Zum Vergleich: In Te Puke haben wir für ein Mehrbettzimmer in der schäbigen Backpackerabsteige 120 Dollar pro Woche bezahlt)
Wir können unser Glück kaum fassen…

Unsere neue Unterkunft wird von dem netten Ehepaar John und Sharon geführt, die sie gerade erst geöffnet haben und mit der Zeit zu einem Bed and Brakefast Hotel weiterentwickeln wollen. Zurzeit sind sie noch in der Experimentierphase, wie viele Gäste sie aufnehmen können. Internet gibt es bisher keines, wird aber in den nächsten Tagen von ihrem Sohn installiert und kostet uns nur 5 Dollar Aufschlag.
Ein junges deutsches Pärchen – Max und Kirsten - hat sich bereits dort eingemietet und am selben Abend, an dem wir ankommen, treffen noch zwei weitere zukünftige Mitbewohner ein: Sam aus Schottland und Nico aus Deutschland. Nach ein paar Wochen vergrößert sich unsere WG ein weiteres Mal um Shenna aus China, Andi aus England, Sol aus Argentinien und Sarah aus Kanada.

Am folgenden Tag haben wir unsere Einweisung im Packhaus. Jan holt uns mit dem Auto ab, aber als wir nach nur fünf Minuten Fahrt in die Einfahrt einbiegen, ist für uns klar, dass wir in Zukunft einfach herlaufen werden.


Die Schulung ist nicht sehr lehrreich. Wir bekommen lediglich ein paar Kiwis mit verschiedenen Makeln gezeigt, (blamish = Schönheitsfehler, haywood = Trockenstreifen , soft ones = zu weiche, squary = zu eckige, small ones = zu kleine, mouldy = schimmlige, black ones = schwarze Stellen, etc.) aber bis wir den Dreh heraushaben, was in die 1., 2. und in den Müll gehört, dauert es fast eine Woche und selbst dann sind wir nicht die einzigen, die noch Fehler machen. Wenn zum Beispiel ein harmloser Makel, wie trockene Stellen oder Streifen, nicht größer als zwei Zentimeter ist, ist es durchaus noch gut genug für die 1. Klasse. Wie sich herausstellt ist das größere Problem, neben unserer Unfähigkeit, eher, dass wir verschiedene Supervisor (Abteilungsleiter) haben, die ebenfalls unterschiedlicher Meinung sind, was noch gut und was Müll ist.


Am Samstag fangen wir mit der Arbeit an. Es gibt einige Deutsche Backpacker hier. Die Jungs helfen meistens beim Auftürmen der gefüllten Kiwiboxen (stacking) oder dem Falten derselben. Die Kiwisortierer (grader) sind ausnahmslos Frauen. Dann gibt es noch die „Vorbereiter“, denen die Verpacker - die die Boxen ordentlich füllen – die Plastikeinlagen und Folien zum Einschlagen der Früchte in den Kisten verdanken.
Neben den Backpackern arbeiten hier viele Einheimische, darunter viele Maori, aber insgesamt sind wir nur ungefähr 70 Angestellte im ganzen Packhaus. Dass es so übersichtlich und klein ist, ist sehr ungewöhnlich bietet aber den Vorteil von familiärer, freundlicher und verständnisvoller Atmosphäre. Nach wenigen Wochen kennt jeder jeden.
Die Sortierer sind gleich hinter der Bürstenmaschine platziert, vor welcher die Kiwis aus den Holzkisten gekippt und etwas gesäubert werden, bevor sie ein Fließband auf die Rollenbänder vor unsere Hände befördert. Wie der Name schon sagt, bestehen diese aus vielen weißen rotierenden Rollen, die die Kiwis dazu bringen, sich um ihre eigene Achse zu drehen, damit man sie von allen Seiten betrachten kann, ohne sie einzeln in die Hand nehmen zu müssen. Das Tempo kommt mir Anfangs noch sehr schnell vor, um all die Früchte auf einmal im Auge zu behalten, aber mit wachsender Übung wird es besser.

Leider hat eine der neu ernannten Aufseherinnen, Terry, noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Untergeordneten und lässt es sich zur Gewohnheit werden, neben uns zu stehen und uns jede mangelhafte Kiwi mit strengem Blick unter die Nase zu halten, die wir übersehen haben. Das ist nicht nur irritierend (weil man den Blick vom Band abwenden und die Kiwi betrachten muss) sondern auch unfair, da ich am Anfang des Bandes stehe und mir somit die gesamte unsortierte Masse vor die Nase purzelt, die ich erst einmal von Blättern und Zweigen befreien, gerade ausrichten, die absolut unzumutbaren und letztendlich auch noch die zweitklassigen Früchte aussortieren muss. Es ist doch klar, dass ich keine Zeit und nicht genug Hände habe, um jede Frucht zu erwischen.

An jedem Band stehen ohnehin immer zwei Sortiererinnen – eine auf jeder Seite und leicht versetzt – damit die hintere sich allein auf die Details konzentrieren kann. Meine Partnerin ist eine etwa 60-jährige Maori und heißt Kura, was in ihrer Muttersprache „Schule“ bedeutet. John und Sharon haben ein Maori-Wörterbuch, in dem ich – neugierig gemacht durch viele Einheimische, die meinten mein Name klinge vertraut - auch das Wort „kira“ gefunden habe und laut dem ich anscheinend nach der Hauptschwungfeder eines Vogelflügels benannt wurde.
Schnell werden Kura und ich ein eingespieltes Team und amüsieren uns prächtig über die stupide Arbeit.
Es gibt insgesamt sieben dieser Sortierbänder, die alle parallel stehen. Am Letzten kommen zusätzlich noch die zurückgeschickten Früchte hinzu, die den Verpackern nicht ganz koscher vorkommen und einen zweiten Blick benötigen.

Als ich am Abend dieses ersten Arbeitstages die Augen schließe, um zu schlafen, sehe ich noch für eine ganze Weile Kiwis hinter meinen Lidern rollen.

Wie Sintija und ich bereits in Te Puke erfahren haben, hat die Kiwisaison dieses Jahr einige Probleme, um richtig anzulaufen. Vermutlich liegt es an dem sehr trockenen, heißen Sommer, unter dem Neuseeland gelitten hat und den ich, aufgrund meiner Abwesenheit nicht mitbekommen habe. Es hat nicht genug geregnet und noch immer sind die Nächte einfach nicht frostig genug, um den Zuckergehalt der Früchte zu steigern.
Daher arbeiten wir in der ersten Woche nur vier, in den darauf folgenden sogar nur zwei Tage am Stück.

Mir ist das ganz recht und ich genieße die Tatsache einen unterschriebenen Vertrag und dennoch so viel Freizeit in einem warmen Sonnenmonat zu haben. Ich wollte hauptsächlich eine Tätigkeit als Pflücker oder im Packhaus, weil das unter „Erntetätigkeit“ (horticulture) fällt und ich drei Monate – volle 90 Tage in diesem Bereich gearbeitet haben muss, um mein working holiday visa um ein Vierteljahr verlängern zu können. Fast einen Monat der Forderung habe ich bereits durch die Arbeit in Warkworth abgedeckt.
Eine bewilligte Verlängerung würde bedeuten, dass ich bis zum 4. Dezember in Neuseeland bleiben und somit den Frühling und Frühsommer hier genießen könnte – und damit auch eine Chance hätte, im Kakapo-Schutzprojekt mithelfen zu können, das erst mit Beginn der Brutsaison im November startet. Natürlich habe ich keine Garantie, dass dieses Projekt tatsächlich zustande kommt - mal davon abgesehen, dass ich mich für einen der raren Plätze erst qualifizieren müsste – denn diese Vögel brüten nur etwa alle fünf Jahre, abhängig von der Häufigkeit der Rimu-Beere, mit denen die Küken gefüttert werden.
Da der letzte Sommer jedoch so heiß und trocken war, gab es kaum welche davon, weshalb es auch keinen Kakaponachwuchs gab. Ich hatte mich bereits im September beworben, bevor ich zurück nach Deutschland musste und zuhause die ganze Zeit gehofft, dass ich nicht gerade jetzt eine Zusage erhalten würde – das wäre wirklich eine Ironie des Schicksals gewesen. Wie jedoch bereits erwähnt, gab es im Sommer 2012 keine Vogelbabys, jedenfalls nicht genug, um Volontäre im Rahmen eines Projektes zu finden.


Also machen Sintija und ich das Beste aus unseren Teilurlaub, denn schon früh genug würde unsere Situation ins Gegenteil umschlagen – mit einer Menge Nachtschichten und sieben-Tage-Wochen, die uns nur so um einen freien Tag betteln lassen würden. Das wurde uns jedenfalls so prophezeit...

Fast jeden Tag laufen wir ins Dorf, auch wenn wir nur einen Joghurt oder frisches Obst brauchen, finden nach kurzer Zeit den schnellsten Weg zum Strand und genießen es, oft stundenlang im Sand in der Sonne zu liegen, dort zu lesen oder - was ausschließlich mich betrifft - ein Bad im noch immer recht warmen Meer zu nehmen. Das Schönste daran ist, dass er fast immer menschenleer ist. Wir haben den Strand ganz für uns alleine. Warum niemand von den Einwohnern ihn nutzt ist mir ein Rätsel, liegt aber vermutlich daran, dass er immer da und somit selbstverständlich ist. Von hier aus kann man manchmal „White Island“ bestaunen, eine aktive Vulkaninsel, von der fast immer dicker weißer Rauch aufsteigt.

Haben wir mal keine Lust auf die 1,5 Stunden Fußmarsch dorthin oder ist das Wetter ausnahmsweise zu schlecht, ist auch unsere Villenunterkunft ein herrlicher Ort zum Entspannen. Besonders mit dem schattigen, parkartigen Garten, in dem verschiedene Obstbäume - Persimmon, Feige, Fijoa - mit reifen Früchten stehen.
Manchmal entzünden wir alle zusammen ein Lagerfeuer vorm Haus, rösten Marshmallows, trinken Bier und unterhalten uns bis spät in die Nacht. Oft setzt sich auch John zu uns und gibt eine Runde aus.

Während dieser „Schonzeit“ lerne ich auch Keith, eine Lastwagenfahrer kennen, der mich einmal auf halben Weg vom Dorf zur Villa mitnimmt. Ich bin eigentlich nur eingestiegen, weil ich schon immer mal in einem Lastwagen als Anhalter mitfahren wollte, auch wenn er von selbst gehalten hat und mein ablehnendes „nein, danke, ich laufe gerne“ als Beleidigung angesehen hätte.
Es stellt sich heraus, dass auch er ein Maori ist und beantwortet mir bereitwillig alle meine Fragen, die sich in meiner kurzen Zeit in diesem Land angesammelt haben. Viel zu bald erreichen wir Johns Haus und da er merkt, dass ich mich noch gerne weiter unterhalten würde, bietet er mich an, mir seinen „Arbeitsplatz“ zu zeigen. Vielmehr ist es ein Steinbruch, von dem aus er Steine, Kies und Dreck irgendwo an die Küste transportiert, wo daraus Zement hergestellt wird.
Er bietet mir an, dass er mich nach seiner Arbeit abholen und mir ein bisschen die Gegend zeigen und mich in die Kultur und die Geschichte der Maori einweisen könnte. Natürlich sage ich ja, was für eine Gelegenheit! Nett und harmlos scheint er auch zu sein und ich tue gut daran, ihm zu vertrauen, denn er zeigt und erklärt mir in den nächsten drei Abenden sehr viel. Dinge, die ich wohl in keinem meiner Reiseführer hätte nachlesen oder lernen können.
Wie zum Beispiel die Besichtigung von Taketakerau – dem uralten Begräbnisbaum des lokalen Maoristammes, der durch einen Blitzschlag entweiht wurde; die Legende wie der Ort seinen Namen den Delfinen Opo und Tiki verdankt, die den ersten Stammeshäuptling „Te Arawa“ hierher brachten; die wahre Geschichte von den sieben Kanus (wakas), in denen die sieben ersten Stämme und deren Häuptlinge ankamen – insbesondere dem Kanu Mataatua, in dem Te Arawa und sein Whakatohea-Stamm in Opotiki landete; die Geschichte von den letzten Stammeskriegen, in denen sich einige mit den weißen Siedlern verbündeten und viele Maori entlang der Ostküste töteten; die Geschichte vom heiligen Berg Makio, der über Opotiki wacht und auf dessen Spitze sich die Krieger auf die Kämpfe vorzubereiten pflegten; oder die etwas bekanntere Geschichte des englischen Pfarrers, der eine Maorifrau heiratete und somit den tödlichen Zorn ihres Stammes auf sich lenkte – und dessen junge Gebeine noch immer unter der kleinen Kirche begraben liegen…
Das und vieles mehr lerne ich über Neuseelands erste Völker, als ich die Abende im Gespräch mit Keith verbringe. Leider habe ich keine Chance mich dafür zu revanchieren, da es die letzten freien Tage sind, die ich in Opotiki haben würde.

Anfang der zweiten Maiwoche geht es dann nämlich endlich so richtig mit der Arbeit los und ich und Sintija haben Probleme, die Zeit für unsere wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe zu finden. Das geht sogar so weit, dass wir tatsächlich die Angebote annehmen, wenn uns jemand fragt, ob wir mit im Auto ins Dorf fahren wollen, da es nach Arbeitsende bereits dunkel ist und wir uns nicht mehr trauen, entlang der schnell befahrenen Hauptstraße zu laufen.

Nach etwa sieben Tagen Arbeit am Stück leidet jeder unter dem Kiwistaub, der sich überall, besonders aber auf den vertikalen Flächen hinter der Bürstenmaschine, zentimeterdick niederlässt und hinterhältig in die Atemwege eindringt. Putzt man sich in der Pause die Nase, ist das Taschentuch hinterher braunschwarz gefärbt und Sam bekommt sogar regelmäßig Nasenbluten davon. Einweg-Atemmasken werden angeboten, die vor allem die Frauen dankbar annehmen. Doch selbst diese helfen nur bedingt, denn man hat das Gefühl, weniger Sauerstoff zu inhalieren und ich muss sie von Zeit zu Zeit beiseite schieben, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Bald arbeitet sich der Staub erst in die Nebenhöhlen, dann sogar in die Lunge vor und entwickelt sich zu einem scheußlichen Reizhusten, der nachts besonders intensiv wird. Bald greifen selbst die hartgesottenen Männer zu den Masken und wenn ich mich nun in der Halle umschaue, bekomme ich den Eindruck in der Seuchenstation eines Krankenhauses zu arbeiten.
So ganz falsch ist das nicht. Bereits in Te Puke haben wir von einem Erreger gehört, der die Kiwiplantagen befällt. Betroffen sind vor allem die teuren Goldkiwis, weshalb auch der ganze Aufwand mit dem Desinfizieren der Stiefel betrieben wurde. Dieser Erreger – PSE genannt – lässt die Blätter absterben und tötet langsam die gesamte Pflanze. Hunderte von Plantagenbesitzern sind aufgrund dessen in den letzten zwei Jahren, seit der Erreger das erste Mal auftrat, bankrott gegangen. Diese verzweifelte Lage hat einige sogar in den Suizid getrieben.
Als ich etwas skeptisch frage, ob das auch für Menschen und Tiere schädlich sei, bekomme ich nur die Antwort, dass man das noch nicht wüsste, da die PSE-Forschung noch nicht besonders weit fortgeschritten sei. Seitdem nehme ich die Maske, auch wenn sie nur geringen Schutz bietet, nicht mehr ab.


Die meiste Zeit ist die Arbeit monoton und ich habe schnell gelernt, in diesen zehn Stunden einfach mein Gehirn auszuschalten und leise vor mich hinzusingen. Das Radio im Büro ist zwar auf volle Pulle gedreht, aber gegen die Geräuschkulisse der aus den Kisten kollernden Kiwis, gebrüllter Konversationen, der Bürstenmaschine und sämtlichen Förderbänder kommt es in unserer Ecke des Packhauses einfach nicht an. Laut der Packer, die in vorderster Reihe stehen, verpassen wir aber ohnehin nichts, da sich die Musik ständig wiederholt und die Werbung nervtötend ist.
Hin und wieder gibt es jedoch auch einen Lacher. Zum Beispiel wenn von hinten gebrüllt wird: „Soft ones coming through!“ und man in den nächsten Minuten Ausschau nach zerquetschten oder matschigen Kiwis halten und diese dann so schnell wie möglich vom Förderband kratzen und alle von Fruchtsaft durchnässten ebenfalls in den Mülleimer befördern muss.
Oder wenn selbige Mülleimer sporadisch von den Aufsehern nach erst- oder zweitklassigen Kiwis durchsucht wird und ich das widersprüchliche Lob „Ich mag deinen Abfall, er ist sehr gut – alles nur schlechte Kiwis“ bekomme.
Oder wenn wir nach ein paar Tagen die ganze Ladung zweitklassiger Kiwis nachsortieren und den übersehenen Kiwimüll herausfischen müssen und Kura trocken kommentiert: „Für mich sieht das alles irgendwie nach Müll aus.“

Diese „schlechten“ Kiwis, die außer äußerlichen Makeln innerlich komplett in Ordnung sind (bis auf die zerquetschten, matschigen und verschimmelten vielleicht) werden übrigens in großen Holzkisten gesammelt und hin und wieder in den Hof gestellt. Dann dürfen sich alle Mitarbeiter daraus bedienen und umsonst mitnehmen, soviel sie wollen. Besonders der Goldkiwimüll ist nach nur wenigen Stunden in großen Plastiktüten in den Taschen der Sortierer, Packer oder Stapler verschwunden. Aber auch zwischendurch darf man einzelne, zu weiche Früchte beiseite legen und in der Pause essen, nachdem sie von den Aufsehern als minderwertig abgesegnet wurden. Da alle Backpacker von Natur aus nicht sehr wohlhabend sind, besteht unsere Diät von nun an hauptsächlich aus, von der Oberschicht (zu der wir ironischerweise selbst gehören) verschmähten Kiwis, was die gesündeste Ernährung ist, die ich seit meiner Ankunft in Neuseeland habe.


Fast bis zum Ende unserer Zeit in Riverlock werden wir noch jeden Tag mindestens einmal auf unserem morgendlichen Spaziergang zum Packhaus von einem der vielen vorbeifahrenden Mitarbeiter gefragt, ob er uns mitnehmen soll. Keiner kann so recht glauben, dass wir aus reinem Vergnügen laufen, auch wenn sich uns inzwischen sogar Sarah, Sol und Andi angeschlossen haben.
Es ist die einzige Möglichkeit, ein bisschen Bewegung an der  frischen Luft und in der Sonne zu bekommen, die es absolut wert ist, eine halbe Stunde früher aufzustehen.

An regenreichen Tagen sind wir allerdings froh, dass Nico ein eigenes Fahrzeug hat, doch er ist eine solche Schlafmütze, das wir jedes Mal Sorge haben, ob wir es rechtzeitig vor Arbeitsbeginn zum Packhaus schaffen…


























Einer der aufregendsten Tage ist der, an dem ich Blutalarm auslösen muss – eine Katastrophe in einem Lebensmittelbetrieb. Gefangen in meiner Monotonie, nur auf die bekannten Makel konzentriert und auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet, kostet es mich einige Sekunden, um die ungewöhnlichen roten Flecken auf den Früchten als „nicht gut“ einzuordnen. Dann aber alarmiere ich augenblicklich Kura und Terry, meine Lieblingsaufseherin, die seit kurzem zu einem unerträglichen Kontrollfreak mutiert ist und versuche, halb auf dem Förderband liegend, alle rotgesprenkelten Kiwis zu erwischen. Auch andere Sortiererinnen haben inzwischen welche entdeckt. Die Farbe ist so intensiv, dass mein Magen rebelliert und ich versuche mir lieber nicht vorzustellen, wie oder wem das passiert sein mag. Definitiv nicht hier im Packhaus, denn vor uns sind nur die Kistenauskipper und von denen hatte keiner einen Unfall. (Verwundet man sich bei der Arbeit an etwas, muss man dies sofort melden, wird zum Büro geschickt und bekommt dort ein unpraktisches, knallblaues Plastikpflaster, unter dem man schwitzt und das dem vielen Händewaschen und Desinfizieren, das zwischen Toilette, Kaffe- und Mittagspausen erforderlich ist, nicht einmal für einen halben Tag Stand hält.)
Als wir unser Sandwich essen, diskutieren wir, was passiert sein mag, bis uns allen fast der Appetit vergeht.
Ich frage später Jan danach, aber sie hat überhaupt nichts davon mitbekommen, was ich sehr merkwürdig finde. Anscheinend hat Terry es nicht ordnungsgemäß weitergegeben, weil sich in der Zwischenzeit herausgestellt hat, dass es sich nur um Beerensaft handelt. Sie bekommt trotzdem einen Rüffel, was unser schwieriges Verhältnis nicht gerade verbessert.

In der letzten Maiwoche ertrage ich die Nörgeleien von Terry einfach nicht mehr und bitte Jan um Versetzung in einen anderen Bereich des Packhauses. Hin und wieder musste jeder von uns mal woanders aushelfen und das Vorbereiten der Boxen, Umpacken oder Verpacken ist vielleicht ab und zu etwas stressiger, aber ansonsten nicht besser oder schlechter als das Aussortieren. Zum Glück werde ich nur zwei Tage später zum Packer ernannt und von einer der Aufseherinnen dort – einer massigen, immer gutgelaunten, laut lachenden Maorifrau – mit einem rauen Schulterschlag und einem fröhlichen: „welcome on the cool side of Riverlock“ begrüßt.


Von da an wendet sich meine Lage schlagartig zum Besseren, auch wenn ich Kura, Sintija und die Sortiererwitze vermisse. Das Packen fordert weitaus mehr Aufmerksamkeit und Schnelligkeit als das Aussortieren. Manchmal füllen sich die Boxen in einem solchen Tempo – besonders bei den zweitklassigen Familienkartons – dass ich nicht einmal Zeit habe, die Klarsichtfolie über den Kiwis zusammenzufalten und den Deckel zu schließen. In diesen Stoßzeiten arbeiten wir aber glücklicherweise meistens zu zweit in einer Reihe.


Es gibt zwei verschiedene Arten von Boxen. Die Einlagigen (single layer), die für Kiwis erster Klasse gedacht sind und bei denen die regelmäßigen kiwiförmigen Dellen in den weißen Plastikeinlagen an jedem Packband eine andere Größe haben – bis zu fünf verschiedene – von Jumbo bis Normal. (Jumbokiwis sind selten und teuer und fallen so langsam in ihre Kisten, das man jeder davon einen Namen geben könnte) Die kleinen Früchte sind dagegen zweitklassig und werden, wie alle anderen zweitklassigen Kiwis in den großen Familienboxen gesammelt, die über 100 Stück enthalten können. Es gibt noch Minikleine, aber die sind wiederum Abfall und landen in den Müllboxen am Ende.
Ich frage, wie die Maschine wissen kann, bei welcher Reihe sie die Kiwis auswerfen muss, wenn jede Reihe eine andere Größe verpackt. Das ist einfach. Die Früchte liegen einzeln auf bunten Plastikschalen und fahren an jeder Reihe vorbei. Diese Schalen sind auf Gewicht programmiert und die Maschine lässt sie somit in den Trichter der Reihe fallen, die für dieses Gewicht bestimmt wurde. Bei den Reihen, die die Jumbofrüchte verpackt, kommt es daher auch oft vor, das zwei Minifrüchte aus der Öffnung purzeln – was passiert, wenn versehentlich mehr als eine Kiwi auf der Schale liegen.

Als sich abzuzeichnen beginnt, dass nicht mehr viele Kiwis in den Plantagen von Riverlock hängen, fangen wir alle langsam an, uns Gedanken zu machen, was wir nach Ende der Packsaison machen wollen. Max, Kerstin und Sam wechseln zu einem der größeren Packhäuser, die mit mehr Plantagenbesitzern Verträge haben, Nico, der genug Geld hat, wird seine restlichen Wochen in Neuseeland ruhig ausklingen lassen, Sarah hat einen Roadtrip um die Südinsel geplant, Sol fliegt zurück nach Argentinien, Shenna ist längst wieder in China und Sintija und Andi sind überraschenderweise zu einem Pärchen geworden und wollen erstmal ein paar Wochen Urlaub zusammen machen. Und ich? Ich hatte eigentlich geplant mit Sintija zurück nach Rotorua zu fahren, da sich das nun aber schwierig gestaltet und ich nicht das fünfte Rad am Wagen sein will, plane ich wieder für mich alleine – was ich, um ehrlich zu sein, genieße.
Ich möchte irgendwo als Volontär arbeiten und wieso eigentlich nicht in Rotorua? Ich habe einige meiner Packhauskollegen nach Möglichkeiten dort gefragt und mir wurde dafür ‚Wingspan’ (eine Adlerwarte) oder ‚Rainbow Springs’ (ein Kiwi-Erlebnispark) vorgeschlagen. Da Wingspan einen langen Bewerbungsbogen erfordert, versuche ich mein Glück erstmal beim Kiwipark. Über diese Vögel wollte ich ohnehin mehr lernen.
Ich habe Erfolg. Es dauert ein paar Tage, weil das Kiwi Encounter Team momentan sehr beschäftigt ist, aber ich bekomme die Zusage, am 17. Juni dort anfangen zu können und mindestens zwei Wochen aushelfen zu dürfen.

Über Couchsurfing finde ich auch einen Schlafplatz für die ersten paar Nächte (wenn nicht gar länger, wenn wir uns gut verstehen) und so steht meinem nächsten Abenteuer nichts mehr im Wege.

Ich bringe es glücklicherweise noch zustande ein Abschiedsessen zusammenzuwürfeln, bevor ich abreise und es ist einer der seltenen Abende, and dem wirklich alle gemeinsam am Tisch sitzen. Wir trinken Bier und Wein, essen und lassen die vergangenen Wochen Revue passieren, bevor wir uns am nächsten Morgen in alle vier Winde zerstreuen werden…


Auch wenn ich vorerst keine Kiwis mehr sehen kann und das alles nur wegen der Visaverlängerung angefangen habe, gehört die Zeit, die ich hier verbracht habe, bisher zu meinen schönsten Erlebnissen in Neuseeland!
 

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